1 ...7 8 9 11 12 13 ...31 »Bei wem waren sie schon?«
»Bei Ottilie Baader und bei Emma Ihrer und ich weiß nicht, bei wem noch«, antwortete Gerda nach Atem ringend. »Es geht gegen das Frauenagitationskomitee. Dabei ist es doch von Rechts wegen erlaubt, eine Frauenagitationskommission zur Vorbereitung auf eine öffentliche Versammlung zu gründen, und wir haben immer aufgepasst, der Polizei keinen Anhalt für die Behauptung zu geben, dass wir ein politischer Verein wären, damit sie uns nicht verbieten können. Aber anscheinend haben die Volksversammlungen, in denen Bebel, Liebknecht, Ihrer und Baader für die Rechte der Frauen gesprochen haben, viel Staub aufgewirbelt und nun wittert die Obrigkeit wieder einmal den Umsturz. Ottilies Vater hat unbemerkt einem Nachbarjungen einen Zettel für mich zustecken können, der Junge hat ihn zu mir gebracht. Ich habe doch die Bücher mit den Mitgliedern und den eingezahlten Beiträgen, wenn das der Polizei in die Hände fällt, nicht auszudenken!«
Jenny nickte. »Das muss verschwinden«, sagte sie nüchtern. »Hast du die Bücher dabei?«
Gerda klopfte sich an die Brust. Dann knöpfte sie ihren schäbigen Mantel auf und holte zwei dicke Hefte hervor, legte sie auf den Küchentisch.
Jenny sah die Hefte mit gerunzelter Stirn an. »Bei mir sind sie auch nicht sicher«, sagte sie nachdenklich. »Es ist bekannt, dass ich in die Arbeiterinnenschule gehe und meine Beziehungen zu dem Frauenagitationskomitee habe und bei keiner Volksversammlung fehle, wo es um Frauenfragen geht. Bei einigen Versammlungen habe ich sogar was gesagt – und die Polizei hat natürlich alles mitgeschrieben, bestimmt auch meinen Namen, darauf kann man Gift nehmen. Und Heinrich ist in der Partei und in der Gewerkschaft und Gott sei Dank auch keiner, der den Mund hält.« Nachdenklich strich sie über das Köpfchen ihrer kleinen Tochter, die von aller Aufregung unbeeindruckt an Jennys Brust nuckelte. Dann schaute Jenny Clara an.
Clara wurde heiß. Sie begriff, was die Freundin wollte, ohne dass diese es aussprechen musste. Und sie begriff, dass sie, würde sie zustimmen, in etwas hineingezogen würde, was sie nicht überblickte. Was verstand sie schon von Politik!
Sie war noch nie bei einer Volksversammlung gewesen, sie las keine Zeitung und sie wollte mit der Polizei nichts zu tun haben.
Und wenn es herauskam, dann zog sie auch noch ihre Familie hinein, und wenn sie verurteilt wurden, dann mussten sie alle ins Gefängnis, denn das Geld, eine Strafe zu zahlen, hätten sie nicht.
Aber Jenny sah sie an. Und nun auch Gerda.
Clara schluckte. Ihr Hals war trocken und rau.
»Bei euch würde keiner die Bücher vermuten«, sagte Jenny leise. »Dein Vater ist nicht in der Partei. Heinrich sagt, dein Vater redet nicht einmal am Stammtisch über Politik – und wenn, dann für das Zentrum. Und deine Mutter und du – ihr seid völlig unbeschriebene Blätter. Bei euch wäre es sicher.«
»Bitte!«, flehte Gerda. »Bitte!«
Da nickte Clara und schob die Hefte zwischen die Kaschmirschals, schlug das Tuch um den Packen, stand auf und nahm ihn sich unter den Arm. »Dann bring ich sie jetzt lieber weg«, sagte sie mühsam. Und wusste, sie würde es bereuen.
Und was so eine braucht, das ist gottverdammt noch mal keine Wohltätigkeit, sondern Gerechtigkeit …
Dieser Satz ging in Margarethes Kopf herum wie ein Mühlrad, verwob sich mit dem Violinsolo, das der polnische Virtuose mit dem völlig unaussprechlichen Namen zum Besten gab. Ge-rech-tig-keit, skandierten die harten Striche in wütendem Fortissimo, mit denen das Presto endete, Ge-rech-tig-keit!
Höflicher Applaus, der weniger dem bravourösen Spiel des Künstlers galt als der Gastgeberin Baronin von Zug, Margarethes Mutter, in deren Salon – genauer gesagt im großen Musiksaal der Villa – sich wie jeden Donnerstagabend Damen und Herren von Geburts- oder Geldadel nach einem fünfgängigen Menü vielversprechende junge Künstler vorführen ließen: schüchterne oder schwärmerische Dichter, die aus ihren Werken lasen, linkische Maler, die stets eine Mappe ihrer Arbeiten unter dem Arm trugen, Bildhauer mit olympischem Blick und einem Album mit Fotografien ihrer Werke, oder Musiker aller Provenienzen. Heute also dieser junge Pole mit seiner wenig eingängigen Musik.
Ermutigt durch den Beifall begann er zu allem Überfluss noch ein weiteres Stück. Es erschien Margarethe wie eine einzige Anklage. So wie das Gesicht dieser kleinen einfachen Frau, die ihr im Hof der Mietskaserne ihren Zorn entgegengeschleudert hatte.
Margarethe versuchte das Bild zu verscheuchen. Sofort war da ein anderes, weit schlimmeres: dieses unsägliche Kellerloch, die bleichen Kinder und die verzweifelte alte Frau – die gar nicht so alt sein konnte, hatte sie doch noch ein Baby. Diese unterwürfige Art, fast hündisch. Kaum hatte sie verhindern können, dass Anna Brettschneider ihr die Hände küsste, und das nur, weil sie in ihrer Rat- und Hilflosigkeit den Inhalt ihres Geldbeutels zwischen die Tütenstapel auf den verklebten Tisch gekippt hatte, nicht mehr als sieben, acht Mark, wenn es hoch kam zehn. Sie hatte nicht mehr Geld eingesteckt, schließlich hatte sie ja nicht geahnt, wie dringend ihr Wunsch sein würde, Geld zu geben. Oder sollte sie ehrlicher sagen: sich loszukaufen?
Dieser Schmutz und dieser unglaubliche, Übelkeit erregende Gestank! Keinen Augenblick länger hätte sie es in diesem Keller ausgehalten. Als sie sich wieder in den Hof gerettet hatte, geschüttelt von Ekel und Entsetzen, hatte sie sich erbrochen. In die Villa zurückgekehrt, hatte sie sich alle Kleider vom Leib gerissen und Emma eingeschärft, sie samt und sonders zu waschen, Mantel, Hut und Muff zum Lüften über Nacht ins Freie zu hängen und die Handschuhe aus feinem Baumwollgarn zu kochen, hatte sich ein Bad zubereiten lassen und sich dreimal eingeseift. Nur zum Haare Waschen war keine Zeit mehr gewesen, die langen Haare brauchten Stunden, um zu trocknen, und an ihrem Salon-Abend bestand Maman auf Margarethes Anwesenheit, da gab es kein Entkommen. So hatte sie die Haare nur von Emma am offenen Fenster ausbürsten und danach mit Parfüm bestäuben lassen. Ihr schien, dass man durch den Rosenduft hindurch den Mief immer noch roch.
Und in einer solchen Luft, in diesem feuchten Moder lebten Tag und Nacht fünf kleine Kinder mit ihrer Mutter. Und klebten Tüten.
»Die Mädchen können beim Kleben noch nicht recht mitarbeiten, sie sind noch zu ungeschickt, aber beim Falten helfen sie auch schon!«, hatte Anna Brettschneider entschuldigend gestammelt – als bedürfe es einer Rechtfertigung, dass die beiden blassen kleinen Geschöpfe tatenlos im Bettzeug vergraben auf dem Strohsack kauerten! Zu immer weiteren Rechtfertigungen hatte sie ausgeholt: »Trotzdem reicht es nicht. Bisher hab ich jeden Monat was von meinem Hausrat ins Leihhaus getragen, aber jetzt hab ich nichts mehr, den Topf und den Eimer brauch ich doch und das eine Bett auch, sonst kündigt mir meine Schlafgängerin und ich verlier auch noch die paar Pfennige, die sie für den Schlafplatz zahlt. Aber wenn ich eine Nähmaschine hätte, eine Singer, mit der man Damenkonfektion nähen kann …«
Dieser flehende Blick – der ließ sich nicht abwaschen wie der Gestank.
»Sie werden Ihre Nähmaschine bekommen«, hatte sie hastig versprochen, »darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Dabei war sie zu so einem Versprechen überhaupt nicht berechtigt. Sie hatte in dem Wohltätigkeitsverein, dessen Vorsitzende ihre Mutter war, nichts zu entscheiden. Nur auf deren beharrliches Drängen hin – es sei Zeit, mit ihren dreiundzwanzig Jahren endlich einmal Interesse an christlicher Nächstenliebe und sozialer Verantwortung unter Beweis zu stellen und den ihr angemessenen Platz in der Gesellschaft auszufüllen – war sie zur letzten Sitzung des Komitees mitgekommen und hatte den Auftrag übernommen, eine gewisse Anna Brettschneider zu besuchen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, worauf sie sich einließ.
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