Jedenfalls war er noch gerade rechtzeitig zur Rettung der Welt gekommen. Das sind heroische Worte, doch es stimmt. Die Menschheit begann, sich langsam aber sicher auszurotten. Durch unsachgemäßen Umgang mit den Ressourcen der Erde begann eine globale Klimaveränderung. Die Erwärmung der Erdatmosphäre nahm gewaltig zu, die Polkappen begannen abzuschmelzen … aber das kennst du ja. Du bist gerade dabei, mit deinem Projekt ‚Flying City‘ einen Teil der Probleme zu bewältigen.
Der Rupp-Generator kam gerade noch rechtzeitig. Mit ihm ist es seitdem möglich, fast alle benötigte Energie der Menschheit unmittelbar aus der Sonne zu schöpfen. Der Umwandlungsprozess ist allerdings noch im Gange. Hoffen wir, dass uns die Zeit nicht davonläuft. Die Sache hat nur einen einzigen Schönheitsfehler: Sie muss erst stattfinden!“
„Wie soll ich das verstehen?“, überlegte Jennifer. „Das ist doch alles schon passiert!“
„Leider nein!“, fuhr Fritz fort. „Ich habe nämlich noch etwas ganz Entscheidendes herausgefunden. Ich weiß inzwischen, wer dieser Torfstecher ist. Torfstecher und ich sind dieselbe Person. Der Zeitreisende bin ich selbst. Ich bin als alter Mann in die Vergangenheit gereist und habe dort die Weichen für die Zukunft gestellt. Als ich Rieke erschien, hat sie mich nicht erkannt, weil ich inzwischen gealtert war. Eigentlich war ich bei dieser Begegnung nur auf der Durchreise in die tiefere Vergangenheit. Ich musste allerhand in die Wege leiten auf dem Weg dorthin. Ich habe genaue Pläne gemacht, in welcher Reihenfolge etwas zu erledigen war. Dabei durfte ich mich nicht irren, denn es gibt nur eine Richtung: in die Vergangenheit. Eine Umkehr ist nicht möglich. … Und nun erkennst du auch den Schönheitsfehler, den ich bereits andeutete. Ich lebe nicht mehr! Ich bin verstorben, bevor es mir möglich war, in die Vergangenheit zu reisen, um den Rupp-Generator in die Zukunft zu schicken. Und ohne diese Erfindung ist die Menschheit verloren. Noch innerhalb dieses Jahrhunderts wird sie sich ausgerottet haben.“
Jennifer hatte das Gefühl, dass Fritz am Ende seiner Erzählung war und wagte einen Einwand: „Aber wir wissen doch, dass es den Generator gibt. Er hat doch schon seine heilsame Wirkung gezeigt, auch wenn wir noch nicht alles überwunden haben.“
„Das ist auch für mich ein Rätsel“, fuhr Fritz fort. „Als ich feststellte, dass mein Herz nicht mehr in der Lage sein würde, die vielen Jahre in der Vergangenheit zu verbringen, die erforderlich gewesen wären, bereitete ich mich auf meinen Tod vor. Vielleicht hat Riekes Tod auch alles etwas beschleunigt … jedenfalls hätte ich es nicht mehr geschafft. Ich wusste nicht … ich weiß es immer noch nicht, was passiert, wenn der Generator gar nicht erfunden wird. Vielleicht fällt dann das ganze Zeitgefüge auf eine frühere Ebene zurück. Wer kann das wissen?
Aber andererseits hatte ich ja meine Erinnerungen. Die konnten doch nicht fiktiv sein! Also ging ich davon aus, dass der Generator doch erfunden wurde – von wem auch immer! Und da kommst du ins Spiel: Für mich bist du der einzige Mensch, der in der Lage ist, die Lösung zu finden. Deshalb bitte ich dich: Jennifer, rette die Welt! Für mich ist es zu spät!“
Jennifer Kristensen war wie vor den Kopf geschlagen. Das war nicht zu verstehen. Sie war jetzt 44 Jahre alt und kannte Friedrich Rupp, genannt Raupe, seit 25 Jahren. Damals war sie 19 und hatte sich im Auftrag von Colossus in Raupes Wohnwagen geschlichen, um seine Erfindung des Rupp-Generators auszuspionieren. Rupp hatte sie im Bettkasten entdeckt und über ihre Beweggründe ausgefragt. Als er erfuhr, dass Colossus sie mit einem Ausbildungsplatz geködert hatte, beschaffte er ihr eine Ausbildungsstelle bei Hansen in Form eines Dualen Studiums „Maschinenbau im Praxisverband“ an der Hochschule Osnabrück. Diese Chance hatte sie genutzt. Nach einem glänzenden Abschluss als Bachelor of Science übernahm Hansen sie als Ingenieurin für die Entwicklungsabteilung seiner Werft, wo sie sich in wenigen Jahren bis zur Abteilungsleiterin hocharbeitete. Sie verblüffte Hansen und ihre Kollegen mit immer wieder neuen Ideen und Erfindungen. Heute galt sie international als Koryphäe der Elektromaschinentechnik. Sie hatte von Anfang an die praktische Entwicklung des Rupp-Generators vorangetrieben. Manchmal hatte sie den Eindruck gehabt, als hätte sie inzwischen mehr Ahnung von dem Generator als sein Erfinder. Raupe hatte oft nur ausweichend geantwortet, wenn sie mit einer konkreten Frage kam.
Sie hatte keine Kinder und war nicht verheiratet. Ihr ganzes Denken und Handeln galt der Technik. Von gelegentlichen kleinen Abenteuern mit dem einen oder anderen Mann abgesehen, war Raupe der einzige, dem sie sich auf Dauer freundschaftlich verbunden fühlte. Doch er war eher wie ein Vater für sie.
Als ihr Chef, der Reeder Dr. Henning Hansen, in ihr Arbeitszimmer trat, saß Jennifer in ihrem Sessel und schaute mit leeren Augen vor sich hin. Erst als er sich räusperte, drehte sie den Kopf zu ihm und schaute ihn an, als wäre sie gerade aus tiefem Schlaf erwacht.
„Na, das war wohl eine bisschen viel in der letzten Zeit!“, sprach er sein Mitgefühl aus.
Jennifer hob entschlossen den Kopf. „Oh, nein!“, meinte sie. „Ich habe nur gerade über etwas nachgedacht.“
„Ich möchte Ihnen noch mein Beileid aussprechen“, sagte Hansen. „Ich weiß, dass er Ihnen sehr viel bedeutet hat.“
„Was meinen Sie damit?“, wollte Jennifer wissen.
„Ich meine den Tod unseres Freundes Friedrich Rupp.“
„Für mich lebt er weiter!“, sagte sie gedankenverloren.
„Ja, so wird es wohl sein“, bestätigte Hansen. „Wir werden ihn alle nicht so schnell vergessen.“
Das nachfolgende Schweigen nutzte Hansen, um sich ebenfalls zu setzen und fragte dann: „Haben Sie über meinen Vorschlag nachgedacht?“
„Was für einen Vorschlag?“, fragte Jenny zurück. Sie konnte sich an nichts erinnern.
„Ich möchte mich aus der Werftleitung zurückziehen und Sie als Geschäftsführerin einsetzen. Haben Sie das nicht verstanden?“
„Ich bitte um Verzeihung“, sagte Jennifer betrübt. „Der Tod Raupes hat mich so geschockt, dass ich alles andere nicht mehr gehört habe.“ Sie machte eine kleine Pause. „Haben Sie das wirklich vor?“, fragte sie ungläubig.
„Ich kenne niemanden, der geeigneter erscheint“, betonte Hansen.
Jennifer schien noch nicht überzeugt. „Das wäre eine große Ehre für mich – aber … Ich fürchte, ich komm dann nicht mehr zum Arbeiten!“
„Sie werden mehr als genug zu arbeiten haben! Sie werden sich wundern, was da alles an Verantwortung auf Sie zukommt.“
„Ich denke an meine ‚eigentliche‘ Arbeit“, gab Jennifer zu bedenken. „Ich möchte praktisch arbeiten, ich möchte erfinden , konstruieren , entwickeln. Am liebsten würde ich die ganze Welt retten!“, rutschte es ihr hinaus.
„Nun mal sachte, Mädchen“, lächelte Hansen. „Die Welt muss auch mal ohne dich auskommen. Vorerst brauche ich dich hier !“ Unversehens war er in das vertraulichere Du abgerutscht. Auch er fühlte sich als so etwas wie ein Vater.
Jennifer schwieg. Das Gespräch mit Fritz ging ihr nicht aus dem Kopf. Könnte sie alles gemeinsam schaffen? Mit der Werftleitung würde sie die Verantwortung für viele andere Menschen übernehmen müssen, deren Existenz und Lebensgrundlage mit der Werft verknüpft war. Sie fühlte sich plötzlich so klein und hilflos. Bisher hatte sie nur für die Technik gelebt. Sie hatte das Glück gehabt, ihre Interessen und ihren Job miteinander verbinden zu können. Ihr Beruf war ihr Hobby. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, etwas anderes zu machen. War das nicht über alle Maßen selbstsüchtig?
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