Der so genannte „Große Komet“ (Komet Flaugergues) wurde 1811 von Honoré Flaugergues zuerst entdeckt und war so hell, dass er mit bloßem Auge gut erkennbar war. In diesem Jahr gelang den Winzern in Europa ein Jahrhundertwein, was man mit dem Einfluss des Kometen erklärte. Der Wein wurde allgemein als „Kometenwein“ bezeichnet.
Die analysierte Flasche gehört zu einer Serie von nur 250 Flaschen und wurde für die Sektkellerei Kessler in Verbindung mit der Werbeaktion „Kessler Sekt - Der siegende Dreadnought“ hergestellt.
Als „Dreadnut“(frei übersetzt: Fürchtenichts) bezeichnete man in Großbritannien ein Einkaliberschlachtschiff (Linienschiff). Dieser Begriff wurde später auch in anderen Ländern, wie auch von der Kaiserlichen Marine übernommen.
Der Analysator wies ferner auf ein Werbeplakat von 1910 hin. Darauf war ein Kriegsschiff mit zwei Schornsteinen, drei Masten und vielen Kanonen abgebildet. Den Schiffsrumpf bildete eine Kessler Sektflasche. Die Grafik war von dem Simplizissimus-Zeichner Th. Th. Heine (1867-1948) gefertigt und sollte eine Anspielung auf die 1902 eingeführte Sektsteuer zur Finanzierung der Flottenaufrüstung des Deutschen Reiches sein. Im oberen Bildbereich stand der Schriftzug „Kessler Sekt – Der siegenden Dreadnought“. Das Impressum unter dem Plakat verzeichnete: G. C. Kessler & Co., Kgl. Hoflieferant, Esslingen. Aelteste deutsche Sektkellerei. Gegründet 1826.
Olmenburg starrte nachdenklich auf den Monitor mit der Analyse. Seine Vermutung hatte sich bestätigt. Es war tatsächlich eine Flaschenpost aus der Zeit um 1910. Die Flasche stammte eindeutig aus einer Produktion von 1909, die ausschließlich an die Kaiserliche Marine für einen Empfang auf dem Panzerkreuzer SMS Blücher, anlässlich der Ernennung des Admirals Alfred von Tirpitz zum Großadmiral ausgeliefert wurde. Das deckte sich mit dem beigefügten Briefbogen. Doch weshalb, zum Teufel, hatte man die Flaschenpost ins Meer geworfen? Das konnte vielleicht die Geheimnachricht aufklären.
Die Handschrift auf dem Blatt bestand aus merkwürdig kantigen, überwiegend spitz zulaufenden Schriftzeichen. Olm ließ auch dieses Blatt durch den Scanner laufen. Vielleicht gab es ja eine Dechriffierung dafür.
Die Antwort war viel einfacher. Bei der Handschrift handelte es sich um die deutsche Kurrentschrift, welche um 1911 durch die Sütterlinschrift abgelöst wurde. Der Text lautete:
Das ist eine wichtige Flaschenpost.
Wir sind hier auf dem Panzerkreuzer SMS Blücher zusammen mit Kaiser Wilhelm dem Zweiten und Leutnant zur See Hellmuth von Ruckteschell. Wir haben gerade ein Schiff versenkt. Das hat Spaß gemacht. Bitte schicken Sie diese Nachricht an Wilhelmine Heldenreich, Dorpamarsch im Deutschen Reich. Unser Vater ist gerade bei dem großen Admiral Tirpitz und lässt auch grüßen.
Viele Grüße von Emma und Berta.
Der Text war eindeutig eine verschlüsselte Nachricht. Kein Wunder, dass Churchill darin den Beweis für ein Kriegsverbrechen der Deutschen Marine vermutete. Olmenburg musste die Zusammenhänge nur noch klären. Wenn die Titanic tatsächlich von der Blücher versenkt worden war, dann war das eine Sensation. Alles deutete darauf hin. Die Zeit stimmte. Die Flasche befand sich zum Zeitpunkt des Untergangs mit großer Wahrscheinlichkeit im Meer.
Doch wie kam sie in das Geheimarchiv der Britischen Admiralität? Warum wurde sie überhaupt mit der chiffierten Botschaft ins Meer geworfen?
Das waren alles Fragen, die der Olm noch klären musste.
Es gab mehrere Ansatzpunkte in der Nachricht. Das waren zunächst die genannten Personen:
1 Kaiser Wilhelm II, den gab es ja wirklich. Doch war er beim Untergang der Titanic in der Nähe? Kaum vorstellbar. Das hätten die Geschichtsschreiber erwähnt.
2 Der „große Admiral Tirpitz“. Olmenburg kooglete: Tirpitz wurde am 27. Januar 1911 zum Großadmiral ernannt. Er könnte also mit dem „großen Admiral“ gemeint sein.
3 „Leutnant zur See Hellmuth von Ruckteschell“. Auch diesen fand der Olm beim Kooglen. Doch welche Rolle spielte er bei der Flaschenpost. Hatte er den Schuss auf die Titanic abgegeben?
4 „Emma und Berta“, die Unterzeichner der Flaschenpost. Das waren vermutlich Tarnnamen, denn Frauen an Bord eines Kriegsschiffes erschienen unmöglich. Hier schien also der entscheidende Ansatz zu sein, ebenso wie der anonyme „Vater“, der sich gerade beim Admiral befand.
5 Adressiert war die Nachricht an „Wilhelmine Heldenreich in Dorpamarsch“. Das war natürlich auch Unsinn, denn niemand konnte eine Flaschenpost so genau adressieren.
Es blieb geheimnisvoll – vor allem, wie die Flaschenpost ins Geheimarchiv der Admiralität gelangt war.
Am nächsten Morgen suchte er das Nationalarchiv auf, wo man ihn erfreut begrüßte. Die meisten Archivare kannte er seit Jahren, und sie waren ihm bei seiner Suche in den Titanic-Dokumenten behilflich. Wonach Olmenburg suchte, wusste er selbst nicht so genau. Es musste etwas sein, das auch Churchill aufgefallen war.
Doch dann bekam er plötzlich eine Liste in die Hände, welche Kapitän Rostron von der „Carpathia“ nach dem Untergang der Titanic an die Britische Admiralität geschickt hatte. Es war eine Aufstellung verschiedener Gegenstände und Dokumente, die bei der Rettung sichergestellt worden waren.
Unter anderem war eine Flaschenpost aufgeführt, mit einer Nachricht vom Panzerkreuzer SMS Blücher, die Rostron nicht deuten konnte. In einer Fußnote hatte er der Admiralität vorgeschlagen, eine mögliche Verstrickung der SMS Blücher mit dem Untergang der Titanic zu prüfen.
Jemand hatte handschriftlich daruntergeschrieben:
Unsinn! S.M.S Blücher war zum Zeitpunkt des Untergangs als Ausbildungsschiff für Marineinfanteristen in der Ostsee eingesetzt.
Die Unterschrift war nicht zuzuordnen.
So war die Liste ohne weitere Beachtung zu den Akten gelegt worden, sie bewies aber auch, dass Churchills Behauptung falsch gesen war.
Olmenburg kooglete erneut und stieß auf eine weitere geheimnisvolle Spur. In Deutschland gab es tatsächlich ein Dorf namens „Dorpamarsch“. Es war berühmt durch den von Emma Heldenreich gegründeten und nach ihr benannten „Tante-Emma-Laden“, der inzwischen zum Weltkulturerbe ernannt worden war. Aus dem Lebenslauf der Emma erfuhr er, dass ihre Eltern „August und Wilhelmine Heldenreich“ hießen und Emma noch zwei Schwestern mit den Namen Berta und Dora hatte. Emma und Berta waren zum Zeitpunkt des Untergangs der Titanic 12 und 6 Jahre alt, während Dora erst zwei Jahre später zur Welt kam.
Als Olmenburg auch noch las, dass August Heldenreich Kaiserlicher Hoflieferant in Marineangelegenheiten war, hielt er das Geheimnis der Flaschenpost für gelöst: Es gab gar keine geheime Nachricht! Vielmehr hatten die Mädchen bei einem Besuch auf dem Schiff die Flasche ins Meer geworfen. Das war wahrscheinlich während des Empfangs anlässlich der Ernennung von Tirpitz zum Großadmiral in Wilhelmshaven gewesen.
Irgendwo und irgendwann hatte jemand die Flasche aus dem Meer gefischt und an die Britische Admiraltät geschickt, wo Churchill sie als Beweis für ein Kriegsverbrechen der Deutschen angesehen hatte.
Es musste aber noch geklärt werden, wie die Flasche mit der Nachricht zu der Britischen Admiralität gelangt war. Sonst hätte sich der damalige Lordadmiral Sir Winston Churchill wohl kaum darum gekümmert.
Alles Unsinn also! Es gab kein Kriegsverbrechen! Es gab nur einen harmlosen Mädchenspaß!
Und nun hatte Sir Matthew Olmenburg ebenfalls seinen Spaß damit. Immerhin war die Flaschenpost inzwischen 138 Jahre alt. Ob man sie noch zustellen konnte?
Der Olm schaute ins „International Adress Book“ (IAB) und fand sehr schnell die Ortschaft Dorpamarsch, aber keine Eintragungen auf den Namen Heldenreich. Natürlich! Die Personen waren ja schon lange tot. Aber er hatte auf noch lebende Nachkommen gehofft. Die gab es nicht – nur den „Tante-Emma-Laden“ in Dorpamarsch.
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