Für den kleinen Schulz indes war es wie ein Panoramafenster ins Paradies. Ganz nah stand er an der durchlässigen Absperrung. Mit seinen kleinen Händen umfasste er das Drahtgitter und schaute hindurch, nahm den Draht gar nicht mehr wahr und schaute nur. In diesem Moment war alles für ihn verschwunden. Mutter Schulz und Vater Schulz, Mein-liebes-Freundchen-wir-sprechen-uns-noch und Schweigen, die Kastanien und Nikodemus, sogar Oma Schulz, die Entenküken und das Glockenspiel – alles weg!
Der kleine Schulz schwebte, schwebte durch das Gitter, schwebte über die Lastwagen, die Bagger, die Bauarbeiter, schwebte nacheinander durch die Stockwerke des aufstrebenden Gebäudes, näherte sich dem Kran, war ihm ganz nah, fasste die Leiter ins Auge, die lange, lange Leiter, die den Kranführer hinaufführte, in seine Kanzel, viele Meter, hundert Meter, tausend Meter hoch hinaus, dem Himmel entgegen. Der kleine Schulz schwebte die Leiter hinauf, höher und höher, und er verspürte keine Angst, als er an der Glaskabine ankam. Er öffnete die schmale Türe, setzte sich auf den ledergepolsterten Kranführersitz und schaute über die Stadt, über die Welt, war oben, oben angekommen, unerreichbar für alle, die ihm befehlen wollten, ihn überreden wollten. Unerreichbar auch für alle die, für die er Objekt war, nicht Subjekt. Also für alle! Hier oben jedoch war er „er selbst“. Der kleine Schulz war der kleine Schulz war der kleine Schulz. Hier oben war er glücklich.
Ein ohrenbetäubender Schrei ertönte! Ein schrecklicher, unförmiger, krähender schrill ohrenbetäubender Schrei! Er riss den kleinen Schulz soggleich von seinem ledergepolsterten Kranführersitz, durch die offenstehende Türe der Kranführerkanzel hinaus ins Freie. Der kleine Schulz fiel! Der Erdboden raste auf ihn zu, in einer eigentümlichen Klarheit erkannte er unter sich roten Sand und wunderte sich, normalerweise nahmen sie doch zum Bauen immer gelben Sand, jetzt war er unten, fast, gleich, jetzt… zog ihn etwas zur Seite, oben, am Arm, vorsichtig, aber bestimmt, ein Gesicht, jenes der Großmutter, an seiner Seite, zwei andere Gesichter nahe vor ihm, unbekannte Gesichter, der kleine Schulz war wieder da, war wieder auf der Erde und hielt immer noch den Maschendraht umklammert, während zwei Bauarbeiter schon die Schweißdrahtverspannung lösten, um die Baustahlmatten beiseite zu schieben, damit der ungeduldig hupende, große, dreiachsige Zementmischer hindurch fahren konnte.
Da die beiden Bauarbeiter ziemlich unfreundliche Gesichter machten und der Fahrer des Zementmischers schon wieder hupte, nahm die Großmutter den kleinen Schulz an der Hand und gemeinsam zogen sie von dannen. Sie hatten jetzt die Beamtenlaufbahn erreicht, jenen Abschnitt der Hauptstraße, an dem sie, der Form des mächtigen Weinbergs folgend, kopfsteingepflastert talwärts und der südlichen Vorstadt entgegen führte.
Ganz eng drückte sich die Straße an die steile, fast senkrecht aufsteigende Bergwand, als wolle sie an und unter diesem Massiv Schutz suchen. Und doch war sie regelrecht eingekesselt, die Straße, denn an ihrer anderen Seite wurde sie von einer hohen Mauer begrenzt, die den dort verlaufenden breiten, etwas höher gelegenen Fußweg von der Fahrbahn abtrennte. Zu allem Überfluss nutzte auch die Straßenbahn, bimmelnd und zweigleisig, diesen passgleichen Verkehrsweg, sodass es ein regelrechtes Getöse war, was dem mit der Situation vertrauten Fußgänger da von der Beamtenlaufbahn her entgegen schallte.
Den kleinen Schulz verband mit der Beamtenlaufbahn immer eine Art Hassliebe. Zum Einen liebte er den vielfältigen Verkehr, der brummend, heulend, jaulend und geruchsintensiv zu seiner erhöhten Fußgängerwarte hinauf brandete. Hören konnte er ihn und riechen, sehen konnte er den Verkehr jedoch nicht, denn die trennende Mauer war nicht nur hoch, sondern auch sehr breit (mindesten einen halben kleinen Schulz breit). Und da auch die Großmutter nicht sehr groß, sondern eigentlich eher ziemlich klein war, hätte es auch nichts geholfen, wenn sie den kleinen Schulz hochgehoben hätte.
Doch hatte der Erbauer der Mauer offensichtlich ein Herz für kleine Jungen gehabt. Denn ein Stück weiter unten, wo schon das Ende von Hang und Abhang und Mauer zu sehen war, hatte er die Mauerkrone auf einem ganz kurzen Stück ein wenig tiefer gesetzt. Tief genug jedenfalls, auf das der kleine Schulz bäuchlings auf der Mauer liegend und von der Großmutter an den Beinen festgehalten, über den jenseitigen Mauerrand in die Tiefe spähen konnte. Hinab auf die dahinratternden Straßenbahnen, auf die ungeduldig drängelnden Personenwagen und die unter großer Last mühsam bergauf schleichenden Lastwagen. Ein bestimmter Lastwagentyp hatte es dem kleinen Schulz dabei ganz besonders angetan, der luftgekühlt heulend seinen Ärger über den steilen Berg förmlich aus sich heraus zu brüllen schien.
Doch die Beamtenlaufbahn wirkte auf den kleinen Schulz noch auf andere Weise. Denn wenn sein Blick, während er an der Hand von Oma Schulz den Weg hinab trabte, unwillkürlich rechts haften blieb, dort, wo der spannende Verkehr zu hören, aber für ihn nicht zu sehen war, wich der Eindruck der steilen, schroffen, braunen, eher dunkelbraunen, eigentlich schwarzen Felswand nicht von ihm. Sie strahlte eine unheimliche Gefahr aus, diese Wand, geheimnisvolle, aber immer verschlossene kleine Türen (die man jedoch nur sehen konnte, wenn man mit der Straßenbahn oder mit dem Auto unterwegs war), führten in ihr Inneres, und dem kleinen Schulz lief jedes Mal mindestens ein Schauer über den Rücken, wenn die Felswand ein wenig Zeit gehabt hatte, auf ihn zu wirken.
Oma und Enkel gingen weiter, hatten Mauer, Felswand und Beamtenlaufbahn nun hinter sich, die Straße und der Weg wurden flacher. Die große Kreuzung nahte, die große Kreuzung am Fuß des Berges, an der alles durcheinander fuhr, zum Schluss jedoch auf geheimnisvolle Weise jeder in die Richtung gelangte, in die er gewollt hatte. Dem kleinen Schulz blieb die Sache ein Rätsel. Schließlich quietschte es oft genug von der Kreuzung her, manchmal auch gefolgt von einem dumpfen Knall. Da habe es mal wieder gekracht, meinten dann Vater oder Mutter Schulz. Der kleine Schulz hatte eine undeutliche Vorstellung davon, was „gekracht“ bedeuten könnte, richtig ausmalen konnte er es sich nicht.
Und deshalb beobachtete er jedes Mal, wenn er an der großen Kreuzung vorbei kam, aufmerksam den Verkehr, damit er es bloß nicht verpasse, wenn es mal wieder krachen sollte.
Oma und Enkel bogen scharf nach links ab und konnten das Haus, in dem die Schulzens wohnten, nun bereits sehen. Die Nebenstraße hinab, vorbei an der Polsterei, die Seitenstraße überquert, die Vortreppe hinauf, Oma Schulz klingelte ihr bekanntes Klingelzeichen, der Türsummer schnarrte, hinein, hinauf durchs Treppenhaus, durch die Wohnungstüre, Mutter Schulz in der Küche.
„Gerade rechtzeitig zum Mittagessen“, meinte sie. Ob die Großmutter mitessen möge, wollte sie wissen. Oma Schulz lehnte dankend ab. Sie habe selbst noch einen Rest von gestern übrig, der dringend gegessen werden müsse. Außerdem wolle sie am Nachmittag einige Briefe schreiben und noch zur Post bringen. Also dann, vielen Dank, guten Weg, bis bald. Und schon war sie zur Tür hinaus.
„Und – war’s schön in der Stadt?“ wollte Mutter Schulz wissen.
„Och – ja…“ antwortete der kleine Schulz.
„Und wo seid ihr gewesen?“ wollte die Mutter weiter wissen.
„Auf dem Markt…bei den Enten…“ meinte der kleine Schulz.
„Und – gab’s was Neues?“
„Nö…“ sagte der kleine Schulz.
Wie wir bereits gehört haben, hatte der kleine Schulz zu dieser Zeit eine ganze Menge Freunde. Es waren meist Nachbarskinder, mit denen er sich seine viele freie Zeit vertrieb; Nikodemus, Michael, Florian und noch ein paar andere, die man beobachten konnte, wie sie an der „Kleinen Fulda“ nebenan nach versunkenen Schätzen fischten, wie sie mit ihren Rollern und kleinen Fahrrädern über die Auewege rund um den großen Spielplatz fegten oder wie sie mit Stöcken nach den Kastanien warfen, die sich von ihrem angestammten Baum einfach nicht verabschieden wollten.
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