Jedes Mal, wenn der kleine Schulz daran dachte, also jedes Mal, wenn er an der Hand seiner Großmutter zur Stadt hinauf stapfte, jagte es ihm einen Schauer über den Rücken, der jedoch bereits im selben Moment vergessen war, in dem man um die nächste Straßenecke bog. Denn dort, direkt hinter der verkehrsreichen Hauptstraße, öffnete sich dem Blick die Innenstadt, streckte sich der für einen Viereinhalbjährigen unglaublich große und nach einem ehemaligen Landesherrn benannte Friedrichsplatz baumlos, aber wiesengrün den Geschäftshäusern entgegen, rechts beflankt von zwei monumentalen Bauwerken der Kaiserzeit: dem Portikus des „Roten Palais“ und dem Museum Fridericianum, letzteres weiß marmoriert und im Sonnenlicht gleißend hell leuchtend, ein Anblick, der den kleinen Schulz jedes Mal von Neuem innehalten ließ.
An was denkt ein kleiner Junge, sozusagen „ante portas“ der großen Stadt? Gibt es für ihn Dinge, die zu besorgen wären? Geschäfte, die es zu tätigen gälte?
Natürlich nicht! Oder…vielleicht doch?
Wenn der kleinen Schulz etwas wichtig nahm, dann waren es Autos. Spielzeugautos. Spielzeugautos waren dem kleinen Schulz wichtiger, als irgendein anderer Zeitvertreibs- oder Beschäftigungsgegenstand es jemals hätte sein können. Auch waren dem kleinen Schulz Spielzeugautos wichtiger, als sie anderen Jungen in seinem Alter durchschnittlich waren. Und es waren auch nicht irgendwelche Spielzeugautos, an denen sein Herz hing, denen er nachjagte. Nein, ganz besondere mussten es sein, ganz spezielle, von einem ganz bestimmten Hersteller. Aus Plastik waren sie, ganz naturgetreu waren sie, eben keine Spielzeugautos, sondern Modellautos, manchmal ein wenig zerbrechlich. Diese wollte der kleine Schulz. Diese, und nur diese.
In der südlichen Vorstadt, wo er mit seinen Eltern lebte, dort, wo auch seine Großmutter wohnte, gab es eine kleine Baracke. Sie stand auf einem ansonsten leeren Grundstück an der Heinrich-Heine-Straße, von dem man vor noch nicht all zu langer Zeit die Trümmer des Hauses, das dort gestanden hatte und das in einer der Bombennächte gefallen war, fortgeräumt hatte.
Die kleine Baracke beherbergte einen Laden. Das war an sich nichts Besonderes. In Baracken hatten zu dieser Nachkriegszeit immer noch viele ehemalige Läden und Geschäfte Unterschlupf gefunden.
Der Laden, der sich in dieser kleinen Baracke befand, war allerdings ein Spielzeugladen, in dessen kleinem Schaufenster sich eine Vielzahl von Spielzeugautos tummelte. Spielzeugautos? Nein, Modellautos! Eben genau die, die der kleine Schulz wollte.
Wie oft stand er an der Schaufensterscheibe und drückte sich seine kleine Nase platt? Wohl so ziemlich jedes Mal, wenn ihn seine Mutter zum Einkaufen mitnahm. Oder seine Großmutter.
Bei seiner Mutter zeitigte sein Betteln keinen Erfolg. Bei seiner Großmutter manchmal schon. Die kleinen Autos waren nicht sehr teuer. Seine Mutter hatte Geld, aber Prinzipien. Seine Großmutter besaß nur eine kleine Rente und auch Prinzipien. Aber andere.
Und so kam es, dass sich die Modellautosammlung des kleinen Schulz Stück für Stück vergrößerte. Und da eine Modellauto-Sammlung für einen Viereinhalbjährigen niemals groß genug sein kann, verband der kleine Schulz, der da an der Hand von Oma Schulz auf die große, verheißungsvolle Stadt zutrabte, mit den bevorstehenden ein bis zwei Stunden ganz bestimmte Wünsche und Hoffnungen. Denn Läden, in denen man Spielzeugautos kaufen konnte, gab es hinter der breiten Hauptstraße genug.
Zuvor jedoch sollte die hoffnungsvolle Vorfreude des kleinen Schulz noch auf eine unerwartete Probe gestellt werden. Was an sich kein Problem war. Denn wer es schafft, sich als Viereinhalbjähriger eine bereits recht ansehnliche Automodell-Sammlung trickreich zusammen zu betteln, der weiß auch auf seine Chance zu warten.
An der den direkten Weg in die verlockende Stadt versperrenden Hauptstraße angekommen, wo Autos, Motorräder und Lastwagen aller Art von links nach rechts und von rechts nach links zweispurig donnernd vorbei tosten, bog die Großmutter zunächst wie immer links ab, vorbei am Geländer des Abgrunds, der in die Unterwelt führte und bezüglich der fußgängermäßigen Überwindung vielbefahrener Straße von einschlägigen Planern des Verkehrs als der zur dieser Zeit Weisheit letzter Schluss angesehen wurde. Jedoch gedachte Oma Schulz offenbar nicht, den sich dahinter erschließenden Treppenabgang zu erreichen, sondern blieb stehen und blickte einen Moment den kleinen Schulz nachdenklich an. Der kleine Schulz blickte fragend zurück.
Dann schien es, als ob Oma Schulz einen Entschluss gefasst habe. Sie fasste die Hand ihres Enkels fester, wandte sich einem Gebäude gleich zur Linken zu, öffnete dessen eisenbeschlagene Tür und trat ein. Die Tür fiel hinter ihnen wieder zu.
Es war, als ob ein unhörbarer Befehl dem Verkehr auf der Hauptstraße geboten hätte, zu verstummen. Plötzliches Dämmerlicht umgab den kleinen Schulz. Und Stille. Tiefe, halbdunkle Stille. Der kleine Schulz konnte sich nicht erinnern, jemals vorher an einem solchen Ort gewesen zu sein. Trotzdem empfand er keine Angst, denn er spürte die Hand der Großmutter fest um seiner eigenen. Damit ging die Sache für ihn in Ordnung.
„Wo sind wir hier?“ flüsterte er. Sein Flüstern durchschnitt die Stille wie ein Rasiermesser.
„Das ist die neue Elisabeth-Kirche“ flüsterte Oma Schulz zurück. „Ich komme manchmal hierher, wenn ich auf dem Weg in die Stadt bin. Es ist zwar eine katholische Kirche, aber die evangelischen sind immer verschlossen, da kommt man nicht hinein. Außerdem sind die katholischen viel schöner geschmückt als unsere.“
Womit der kleine Schulz etwas zum Nachdenken hatte. Er hätte in diesem Moment eigentlich ganz viele Fragen gehabt, die ihm seine Großmutter bestimmt hätte beantworten können. Aber er getraute sich nicht. Denn bereits schon das leiseste Geräusch, das man von sich gab, schallte durch das große Haus wie eine Posaune. Außerdem fühlte sich der kleine Schulz plötzlich irgendwie komisch. Als habe ihn jemand in eine dicke Decke eingewickelt. Er fühlte sich so, wie sich Viereinhalbjährige normalerweise eben nicht fühlen.
Der kleine Schulz beschloss, gegen dies komische Gefühl etwas zu tun. Er machte sich von der Hand der Großmutter los und begann, langsam und, um jedes unnötige Geräusch zu vermeiden, auf Zehenspitzen durch das Kirchenschiff zu schleichen. Dazu wählte er den Seitengang, der ihm im Vergleich zum viel breiteren Mittelgang ungefährlicher erscheinen wollte. Er wunderte sich über die Größe der Kandelaber an den Wänden und die Konstruktion der hölzernen Sitzreihen, die, gleichförmig wie eine Kette, durch sein Blickfeld glitten. Er erreichte den Seitenaltar, widerstand aber dem Drang, an ihn heran zu treten und seine kleine Hand auf die steinerne Tischplatte zu legen. Er würde kalt sein, der Stein, furchtbar kalt, so kalt, wie kalter Stein eben ist. Und kalten Stein wollte er jetzt nicht anfassen.
Also schlich er weiter voran, weiter, bis sich über ihm die rot- und gold gemalte Kanzel wölbte, die für den kleinen Schulz so aussah, als habe sie jemand mit Alleskleber an die Wand geklebt, gerade so, wie Vater Schulz einen kleinen Schornstein an ein kleines Dach klebte und damit ein kleines Modellhaus vervollständigte, was sich auf der Eisenbahnanlage gut ausmachen würde, die der kleine Schulz gerade zu Weihnachten bekommen hatte..
Der kleine Schulz schaute nach oben, zog seinen Kopf unwillkürlich ein wenig ein und bemerkte bei dieser Gelegenheit den Hauptaltar, in seinen Augen ein langer, breiter Tisch, der mit einem purpurroten Tischtuch und zwei Leuchtern geschmückt war.
„Anfassen verboten!“ Hätte vor dem Tisch ein großes Schild gestanden, das jegliches Berühren des Mobiliars nebst dessen Arrangements kategorisch untersagt, dem kleinen Schulz hätte es nicht klarer sein können! Niemand brauchte es ihm zu sagen, nein, der Altartisch schrie es ihm förmlich entgegen, denn dieser Tisch war ein Gegenstand aus einer Welt, die nicht die Welt des kleinen Schulz war. Der kleine Schulz stand vor den zwei Stufen, die den Altarraum vom Kirchenschiff trennten und spürte, dass er vor einem Tor stand, das für ihn verschlossen war. Und er fragte sich in diesem Moment, ob sich ihm dieses Tor auch irgendwann einmal öffnen würde. Und wusste darauf keine Antwort.
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