Seine bislang starren Augen begannen zu flirren, seine Pupillen fokussierten den nächstbesten Gegenstand, schwenkten dann nach links, verharrten einen Moment, begannen von dort aus den begrenzten Horizont nach rechts abzutasten. Gestalten glitten durch sein Blickfeld, schienen ihm zugewandt, doch immer noch unscharf, ebenso wie alle weiter entfernten Gegenstände, deren Umrisse sich erst jetzt langsam zu klären begannen. Mit erwachtem Selbstbewusstsein neugierig geworden, bewegte er vorsichtig seinen Kopf nach rechts, um einen weiteren Ausschnitt seiner neuen Wirklichkeit in Augenschein zu nehmen. Wieder von der Mitte nach links, dann langsam von dort nach rechts. Eine helle, unscharf umrissene Fläche brachte den Streifzug seiner Augen abrupt zum stehen.
„Du bist uns gut gelungen“, ertönte es von irgendwo aus der Fläche.
Tat, nicht Täter.
Seine Augen weiteten sich. Er wusste, er musste sehen, klar sehen, jetzt, sofort, seine ganze Kraft auf diesen Augenblick konzentrieren, die Unschärfe fort-wischen, von seinem Blick und aus seinen Gedanken. Noch einmal schloss er seine Augen, hielt einen Moment inne, sammelte seinen Willen, seine sich öffnenden Lider enthüllten zuerst wieder nur Konturen, sich schnell verstärkend, konkretisierend. Dann, unvermittelt, war es vorbei. Angstvolle Ahnung, nagende Unsicherheit, bohrende Befürchtung, vorbei. Beruhigende Geborgenheit, tröstende Unwissenheit, zärtliche Blindheit, vorbei.
Die Zeit der Erkenntnis war da.
Er schaute sich um. Mit klarem Blick, bereit zu verstehen. Und er verstand.
Tat, nicht Täter!
Sein Mund öffnete sich und es entfuhr ihm ein unartikulierter, markerschütternder Schrei.
Der kleine Schulz war geboren.
Verzweifelt bemühte sich der kleine Schulz, seine wild im Kreise wirbelnden Beine unter Kontrolle zu halten. Schnell musste es gehen, schneller, so schnell es eben ging. Angesichts der verwegenen Hatz überfordert, schwankte das kleine blaue Fahrrad hin und her, mit den harten, starren, vollgummibereiften Stützrädern wechselseitig den Asphalt der Straße touchierend, beruhigende Stabilität vortäuschend, dabei immer die Gefahr bergend, Drahtesel nebst Reiter unvermittelt aushebelnd auf die Fahrbahn zu werfen.
Dennoch: Was geschah, musste sein, hatte Nikodemus doch bereits einen erheblichen Vorsprung gewonnen und drohte nun, hinter der nächsten Straßenbiegung außer Sicht zu geraten.
Eile tat also not. Der kleine Schulz strampelte, was die Pedale hergaben. Nikodemus’ Fahrrad war zwar eine Nummer kleiner, jedoch stützräderfrei und somit wesentlich schneller. Stolz hatte Nikodemus, meistens der Kürze halber „Nikki“ genannt, dem kleinen Schulz vorgeführt, wie es ging mit dem Fahrradfahren, nur mit zwei Rädern. Natürlich hatte es der kleine Schulz auch probiert. Mit Nikkis Fahrrad, denn der hatte keine Ruhe gegeben, bis sich der kleine Schulz seufzend auf das kleine stützradfreie Fahrrad setzte und zaghaft in die Pedale trat. Es folgten ein paar segelnde Schwünge, dann lag er. Das linke Knie aufgeschürft, die Wunde mit winzigen Splittkieseln durchsetzt. Am linken Ellenbogen die Haut abgewetzt (was höllisch brannte). Der kleine Schulz spürte Tränen in sich aufsteigen. Denn Schuld an allem war natürlich nur der Nikodemus, der hatte ihn überredet, ohne den wäre der kleine Schulz nie auf so eine blöde Idee gekommen. Schließlich konnte er noch nicht „ohne Stützräder“. Das hatte er nur gemacht, weil der Nikki es ihm gesagt hatte.
Doch ehe die Tränen in den Augenwinkeln des kleinen Schulz zum Vorschein kommen konnten, hatte der sich umgeblickt – und festgestellt, dass sie alleine waren. Keine Zeugen weit und breit, und schon gar keine Erwachsenen. Also lohnte sich auch das Heulen nicht. Der kleine Schulz schluckte zweimal, kroch unter dem über ihm liegenden Fahrrädchen hervor, ließ es wütend auf den Gehweg zurückfallen, blickte Nikodemus wütend-entrüstet-ent-täuscht an, konstatierte „Du bist mein Freund gewesen!“ und humpelte heim.
Bereits am Nachmittag des nächsten Tages waren sie wieder zusammen. Sie hatten sich auf der Straße getroffen, direkt vor dem Mietshaus, in dem der kleine Schulz mit seinen Eltern wohnte. Nikodemus seinerseits wohnte „schräg gegenüber“, so dass diesem Treffen weniger der Zufall als eine gewisse Zwangsläufigkeit innewohnte.
„Wollen wir zur Kastanie rüber? Vielleicht sind ein paar schon reif!“
Natürlich war es Nikodemus, der den Vorschlag machte, der großen Kastanie hinter der Kleingärtner-Kolonie auf dem „die Hofbleiche“ genannten Areal ein Stück die Straße hinunter einen Besuch abzustatten. Der kleine Schulz wäre auf so eine Idee selbst niemals gekommen.
Falsch! Der kleine Schulz wäre schon auf diese Idee gekommen und hat sie auch tatsächlich gehabt, aber er hätte sie kaum in die Tat umgesetzt. Dazu hatte er viel zuviel Respekt.
Zum Beispiel vor seiner Mutter. Denn Frau Schulz war des Haushalts bestimmender Faktor, während Vater Schulz „die Brötchen verdienen musste“, wie er es auszudrücken beliebte und sich dadurch eher selten zuhause sehen ließ. Dass er allerdings den Status einer letzten, terminalen Instanz einnahm, war nicht nur dem kleinen Schulz bewusst.
„Ich darf nicht so weit“ antwortete der kleine Schulz also wahrheitsgemäß.
„Du bist doof!“ antwortete Nikki. „Alle dürfen so weit!“
Der kleine Schulz sah sich um. Außer ihnen zweien war da niemand.
„Du lügst!“ meinte der kleine Schulz. Es war mehr eine Feststellung als eine Anschuldigung. Dass Nikodemus sich die Tatsachen manchmal etwas zurecht bog, war kein Geheimnis.
„Und du bist doof“ gab Nikki zur Antwort, bestieg sein Fahrrad und radelte in Richtung Kastanie davon.
Wäre, ja, wäre der kleine Schulz in diesem Moment ein wenig standhafter gewesen, hätte er ein paar Sekunden länger gewartet, er hätte dem Leben damit Gelegenheit gegeben, ihm eine interessante Erkenntnis zu vermitteln. Denn er wäre Zeuge geworden, wie Freund Nikki, über die Schulter schauend, seine Fahrt verlangsamt, schließlich angehalten hätte, um dann umzukehren und zum kleinen Schulz zurückzufahren.
Doch Geduld ist nun mal nicht die Sache eines Viereinhalbjährigen. Weswegen der kleine Schulz anstatt zu einer Erkenntnis vielmehr zu einem Entschluss gelangte, infolgedessen er sein Fahrrad bestieg, um vierrädrig und mit wachsender Eile Nikodemus hinterher zu radeln.
Endlich kam das Ende der langen Mauer in Sicht, die die Kleingärtner-Kolonie vom Fahrdamm abgrenzte. Dahinter bog nach links ein Weg ab, der, besagte Kastanie passierend, den sogenannten Rosenhang hinauf immer steiler ansteigend der Innenstadt entgegen strebte.
Tatsächlich hatten Vater und Mutter Schulz, lange Zeit bevor der kleine Schulz das Licht der Welt erblicken sollte, überlegt, ob das tief an der Karlsaue liegende, stets etwas feuchte Südstadtviertel nahe des Fuldaflusses das Richtige für die Aufzucht eines Kindes sei. Doch schließlich machte die Aue das Rennen und die Feuchte verlor. Und was so einen Racker nicht umbrachte, machte ihn am Ende nur härter.
Etwas von dieser Härte kam nun tatsächlich zum Vorschein, als der kleine Schulz, der während seiner rasanten Fahrt mehrmals von den Pedalen abgerutscht war und diese, sich mangels Freilauf weiterdrehend, schmerzhaft in die Fersen bekommen hatte, dessen linkes Knie, von den gestrigen Fahrradfahrversuchen immer noch verunstaltet, sich schmerzhaft bemerkbar machte, als dieser kleine Schulz auf seinen vier unglücklichen Rädern balancierend also in einem Höllentempo um die Ecke gebogen kam und direkt vor Nikodemus, fest in die Rücktrittbremse tretend, mit blockierendem Hinterrad zum Stehen kam.
Nikodemus bückte sich nach einem Ast, maß ihn mit Kennerblick, brach ihn über dem Knie in zwei Hälften, reichte die eine dem kleinen Schulz, holte mit der anderen aus und feuerte sie zielsicher in der Kastanie Gezweig. Es krachte, knackte, raschelte, zurück kam der Ast, gefolgt von einer stachelbewehrten Kastanienfrucht. Der kleine Schulz wartete, bis Nikki sie in Händen hielt, dann holte er seinerseits aus, zielte kurz und warf. Krachen, Knacken, Rascheln, zuerst der Ast, dann die Frucht, die beim Aufprall auf die Erde zerbarst und ihren Inhalt freigab. Der kleine Schulz lief los, griff sich seinen Stock, suchte die Kastanie, Krachen, Knacken, Rascheln, Nikodemus hatte bereits wieder geworfen, der Stock streifte das Ohr des kleinen Schulz, die Stachelfrucht seinen Mund. Der kleine Schulz spürte nichts außer Schrecken, leckte und schmeckte Blut, tupfte mit dem Finger über seine Lippen, sah rot und sich um. Keine Zeugen. Aber egal.
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