Es ging die dunkle, zugige Rathausgasse entlang, dann über den kopfsteinpflastrigen Karlsplatz, wobei man mit viel Glück und zur richtigen Uhrzeit dem herrlichen Glockenspiel lauschen konnte, welches von der Kuppel der Karlskirche herab erklang. Doch wie um eine Stimmungsaufhellung des kleinen Schulz zu vermeiden, schwiegen die Glocken, so dass die beiden Stadtbummler unbeschallt ihren Weg fortsetzen mussten.
Dadurch konnte der kleine Schulz ungestört traurig sein. Und fand dabei Zeit für tiefschürfende Überlegungen. Er fragte sich zum Beispiel, warum ihm eigentlich so merkwürdig zumute war. So, als ob ihm die Großmutter ein Modellauto gezeigt hätte (eines von denen, die er sich schon so lange wünschte), und in dem Moment, wo er zugreifen will, sagen würde: „Ätsch – das bekommst du aber nicht!“ Das ist nicht recht, dachte sich der kleine Schulz, das ist nicht recht, dass du so etwas denkst. Die Oma hatte so etwas noch niemals getan, und so, wie der kleine Schulz die Lage einschätzte, würde sie so etwas auch in Zukunft niemals tun. Aber warum fühlte er dann einen unbestimmten Groll auf seine Großmutter? Warum hatte er einfach keine Lust mehr, mit ihr zu reden?
Unvermittelt meldete sich sein schlechtes Gewissen. Wenn er weiter schwieg, würde es nicht mehr lange dauern, bis auch die Großmutter traurig sein würde. Und zum Schluss wäre sie womöglich sogar böse auf ihn. So was konnte passieren, der kleine Schulz wusste es. Einmal hatte er einen ganzen Vormittag lang nicht mit seiner Mutter geredet, weil die ihm beim Waschen morgens Seifenwasser in die Augen gespritzt hatte. Das hatte höllisch gebrannt und der kleine Schulz hatte sich erst nach einer halben Stunde getraut, seine fest zugekniffenen Augen vorsichtig wieder zu öffnen. Da war er der Mutter böse gewesen und hatte keinen Ton mehr von sich gegeben. Das hatte die Mutter nun davon! Doch irgendwie hatte sich die ganze Situation plötzlich ins Gegenteil gekehrt. Nach einer Weile war die Mutter ärgerlich geworden und hatte ihn, den kleinen Schulz, böse angefunkelt. Es war richtig brenzlig geworden für den kleinen Schulz, bis das Eintreffen der Großmutter gerade noch rechtzeitig die Wogen geglättet hatte.
So etwas, dachte sich der kleine Schulz, konnte jeder Zeit wieder passieren. Und wenn es diesmal auch nicht die Mutter, sondern die Oma Schulz war, die er anschwieg, wäre es vielleicht doch besser, sich die ganze Sache noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.
Wenn jemand in diesem Moment dem kleinen Schulz ins Gesicht geblickt hätte, dann wäre ihm die Veränderung aufgefallen, die dort von einem Augenblick auf den anderen vor sich ging.
Die Miene eines kleinen traurigen Jungen ist für gewöhnlich verschlossen und ziemlich in sich gekehrt. Die Miene dieses kleinen Jungen hingegen schien sich wie auf einen geheimen Befehl hin zu entspannen, hellte sich auf, die Mundwinkel ruckten ein Stückchen aufwärts, es war fast schon wieder ein Lächeln, was sich da zeigte – und auch die Großmutter spürte es. Denn sie blickte auf den kleinen Schulz hinab und wusste, dass die dunklen Gedanken-Wolken ihres Enkels dabei waren, sich zu verziehen. Sie wusste es, weil sie – erstens - selbst zwei solcher Racker großgezogen hatte und – zweitens – viele Jahre in einem Jungen-Gymnasium tätig war, als Sekretärin des Direx, damals, in ihrem ersten Leben, vor dem Krieg.
Und deshalb wusste sie, dass es in der Natur plötzlich auftretender Probleme kleiner Jungen liegt, ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. Nur – welcher Natur das Problem des kleinen Schulz gewesen war, davon ahnte sie nichts. Wie sollte sie auch? Der kleine Schulz wusste ja selber nicht, von was er an diesem Vormittag so seltsam berührt worden war.
Da jedoch weiterführende Überlegungen fürs Erste nicht mehr notwendig schienen, da der kleine Schulz wieder ansprechbar war, verlegten sich Oma und Enkel wieder auf das, was sie immer taten, wenn sie auf dem Weg von der Stadt nach Hause waren: sie statteten der großen Baustelle des neuen Amtsgerichts einen Besuch ab.
Zwischen kleinen Jungen und großen Baustellen besteht eine natürliche Affinität. Zumindest war es damals noch so, in Deutschland am Anfang der sechziger Jahre. Es gab natürlich noch weitere Affinitäten: kleine Jungens und Autos, kleine Jungens und Lokomotiven, zum Beispiel.
Mit den Baustellen hatte es jedoch eine besondere Bewandtnis. Hier fokussierte sich das Interesse nicht auf einen einzelnen, eindeutig definierten Gegenstand der Begeisterung, sondern fand in der Aggregation der Details seine Vollkommenheit.
Da war der Kran – seine Höhe im exponentialen Verhältnis zur Baustellengröße. Auf manchen Baustellen fanden sich mitunter zwei dieser Giganten, die sich, wie in einem von Geisterhand dirigierten Ballett real gewordener stählerner Ungeheuer, mit überraschender Sanftheit vor einander verbeugten und sich dabei gegenseitig Betonsilos, Ziegelpaletten oder Gittermatten gleich Geschenken zureichten, wie Vogeleltern es tun, wenn sie sich zur Brut bereit machen.
Dann die Bagger – die kleinen, die mittleren, die großen Bagger, auf Rädern, auf Schienen, auf Gleisketten, die sich in die Erde graben, Schlünde eröffnen, Berge auftürmen, abtragen, gestalten, neu erschaffen.
Zwischen ihnen die Lastwagen – Erde, Sand, Kies, Steine auf ihren Rücken angehäuft, man spürt ihre Last förmlich, sie ächzen, sie stöhnen und schreien ihre Anstrengung aus sich heraus, mit brüllenden Motoren. Dann die Erlösung – noch ein letztes Aufbäumen, die Ladefläche hebt sich, tonnenschwere Gewichte rollen, fließen, fallen zu Boden, man meint die Erleichterung zu fühlen, minutenlang, nicht länger, denn irgendwo hält ein gieriger Bagger sein greifbereites Maul bereits wieder geöffnet, hält neue Last bereit, denn die Arbeit muss weitergehen, es kann nicht schnell genug gehen, sie kommen fast nicht nach, die Menschen, die zwischen den Maschinen wuseln, zu hören sind sie, ja, sie schreien sich abgehackte Kommandos zu, Wortfetzen dringen an das Ohr des Betrachters, zu sehen sind sie auch, doch so klein, so winzig – und doch die Dompteure der um sie herum tobenden Manege.
Der kleine Schulz war begeistert. Denn wenn Oma und Enkel ihren Heimweg über die Beamtenlaufbahn wählten (was sie meistens taten), kamen sie zwangsläufig an der Baustelle vorbei. Und jedes Mal stellte sich dann erneut die spannende Frage, was es wohl heute Neues zu sehen geben würde. Denn die Baustelle veränderte sich. Tag für Tag. Das liegt an sich in der Natur von Baustellen, wurde jedoch angesichts des Tempos, mit dem damals gebaut wurde, umso augenfälliger. Außerdem galt es jedes Mal wieder von Neuem zu schauen, welches Loch im Baubretterzaun wohl diesmal offenstünde, um dem neugierigen Betrachter erkenntnisreiche Einblicke zu gewähren. Denn kaum fehlte einmal eine Latte an einer besonders exponierten Stelle, war sie beim nächsten Besuch bereits wieder ersetzt worden, getrieben von der Angst, einem unberufenen Auge aufschlussreiche Informationen liefern zu können – etwa über die Tiefe des Fundaments oder die Rezeptur des Betons. „Feind hört (und sieht) mit“ – diese Parole war in den Köpfen der Menschen damals immer noch oder auch schon wieder weit verbreitet. Besonders die Baustellen öffentlicher Gebäude waren deshalb von einer gewissen Hermetik gekennzeichnet.
Also umkreiste Oma Schulz, den kleinen Schulz fest an der Hand, die Baustelle, immer am Bauzaun entlang, um ein geeignetes Loch zu finden, eines, welches einerseits nicht zu hoch liegen durfte (Enkel-Zehenspitzenhöhe war gerade noch akzeptabel), andererseits auch nicht zu tief, denn das Kind trug lange Hosen, und den Jungen mit sandigen Hosenbeinen zu Hause abzuliefern – das kam für Oma Schulz nicht nur nicht in Frage, nein, das wäre undenkbar gewesen!
Als sie bereits die gesamte Baustelle ihrer Länge nach abgeschritten hatten und nun der nach links abbiegenden Bretterwand folgen wollten, blieben sie plötzlich wie angewurzelt stehen und das Gesicht des kleinen Schulz strahlte auf wie ein Autoscheinwerfer bei Nacht: da war kein Bauzaun mehr! In der Wand klaffte eine Lücke, gute zehn Schritte breit. Sie hatte wohl dazu gedient, neues Material auf die Baustelle zu bringen und war danach nur notdürftig mit ein paar aufrecht gestellten und mit Schweißdraht gesicherten Baustahlmatten verschlossen worden.
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