„Okay, ich höre!“
Noch einmal zögerte Gowindi. „Dein Vater... er ist ein Hybrid.“
Ich sah ihn verständnislos an.
„Du weißt, was ein Hybrid ist?“
„Im Groben, ja.“ Kein Wort verstand ich.
„Hybriden sind Mischwesen. Sie weisen keine stabile Generationenfolge auf, was bedeutet, dass du nicht zwangsläufig auch einer sein musst.“
Pause.
„Soviel wir wissen, bist du jedenfalls keiner“, schickte er endlich hinterher. Sollte mich das etwa beruhigen? „Vielleicht werden deine Nachkommen welche sein. Das lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Aber du bist auf jeden Fall…“
„Lass mich einfach einen Augenblick aus dem Spiel“, unterbrach ich ihn. „Wir sind jetzt bei meinem Vater. Er ist also ein Hybrid. Super! Könntest du etwas genauer werden?“
Konnte er. „Hast du das Tagebuch deines Großvaters gelesen?“
Endlich fiel der Groschen. Zugegeben, ich hatte das Journal (oder vielmehr seine kläglichen Reste) einst gelesen, aber auch nur, weil meine Mutter immer darauf bestanden hatte. Sie wollte mir unbedingt Lesen beibringen, nobel von ihr, keine Frage, dennoch so sinnlos. Mein fehlender Enthusiasmus in diese Richtung hatte sie stets betrübt, nur ihr zuliebe war ich irgendwann dazu übergegangen, diese Thematik ein wenig ernster zu nehmen. Zwar konnte ich nicht behaupten, ein Meister geworden zu sein, doch sah ich mich heute in der Lage, wenigstens einigermaßen respektabel lesen zu können. Das Tagebuch meines Großvaters hatte dabei eine zentrale Rolle gespielt. Seine Chronik von Gondwanaland war mir vor langer Zeit ein Quell der Inspiration gewesen. Jedenfalls wusste ich jetzt, worauf Gowindi abzielte. Woher er aber überhaupt davon wusste, entzog sich meiner Kenntnis. Ich ging nicht näher darauf ein. Womöglich ein Fehler.
„Du sprichst von den Ermeskul, richtig?“
„Ja, Freund Jack, von den Ermeskul. Dein Vater trug einen davon in sich, einen sogenannten Sentry. Ebenso dein Großvater. Ich glaube, dir ist bereits bekannt, was es damit auf sich hat.“
„Mehr oder weniger.“ Womöglich war ich bei der holprigen Lektüre noch zu jung gewesen, um sie in ihrer Konsequenz nachzuvollziehen. Wie sehr es auch meine eigene Person betraf, wurde mir erst jetzt nach und nach klar.
„Deswegen sind wir hier. Toorags und Ermeskul sind immer Verbündete gewesen, über Jahrtausende hinweg. Sie haben uns gebeten, auf euch zu achten. Vor allem auf deinen Vater und seine Nachkommen. Du bist einer dieser Nachkommen. Die Ermeskul sind auf euch Menschen angewiesen, um zu überleben. Nun ja, natürlich nicht auf alle. Nur auf diejenigen, die einen Sentry in sich tragen. Du gehörst ja nun leider nicht dazu.“
Leider? So sah ich das ganz und gar nicht. „Ich kann nicht sagen, traurig darüber zu sein.“
„Solltest du aber. Du wärst ein weiterer Garant für das Fortbestehen der Ermeskul und stündest damit nicht nur unter ihrem, sondern auch unserem Schutz. So bist du nur ein Mensch... und Menschen sind, verzeih mir, heutzutage nicht mehr viel wert.“
„Wie darf ich das verstehen?“ Eigentlich kapierte ich es auch so. Nach der Niederlage der Menschen im Tooragkrieg (einer Auseinandersetzung, die sie
ohne jeden Zwang selbst angezettelt hatten), standen ihre Aktien nicht mehr sonderlich hoch. Vertrieben aus all ihren Kolonien, zusammengepfercht auf Sahul, dem sogenannten Exilstern, fristeten sie nur noch ein Schattendasein. Später verloren die Toorags Sahul an die Opreju, was die Situation der Menschen dort weiter verschlechterte. Aber das war eine andere Geschichte.
„Es gibt nicht mehr viele von euch“, schloss Gowindi. „Dein Vater hat es sich in den Kopf gesetzt, seinen alten Freund Kincaid Sprent von Sahul retten zu wollen. Und nicht nur ihn. Die Unterstützung der Ermeskul hat er. Ihnen ist viel daran gelegen, hier auf Evu weitere Menschen anzusiedeln.“
„Was bringen ihnen denn Menschen? So wie ich es verstehe, sind nur Hybriden für sie von Nutzen.“
„Ganz genau, Freund Jack. Der Deal steht. Dein Vater bekommt seinen Willen. Im Gegenzug verpflichtet er sich, für weitere Hybriden zu sorgen. Eine Hand wäscht die andere.“
„Das bedeutet, er kommt eines Tages zurück?“
„Davon darfst du ausgehen.“
Ich nickte, doch wollte sich keine Freude darüber einstellen. Noch nie zuvor hatte ich mich derart verloren gefühlt. Zwar hatte ich mit Gowindi einen einzigartigen Kameraden gefunden, der mir in allen Lebenslagen vertrauensvoll zur Seite stand, doch gelang es ihm nicht, das tiefe Loch zu füllen, welches der Tod meiner Mutter aufgerissen hatte. Nun also war auch Vater gegangen. Wie wenig ich ihm bedeutet haben musste! Wie verdammt wenig! Dennoch ließ sich der trostlosen Situation etwas Positives abringen: ich hatte eine Entscheidung zu fällen. Ich sah mich gezwungen, erwachsen zu werden, das verletzte Kind in mir ohne Wenn und Aber loszulassen – oder zugrunde zu gehen.
Mit Gowindis Hilfe wählte ich ersteres.
Damit endete im Alter von fünfzehn Jahren meine Kindheit.
Ylvie, die Zwillingsschwester meines Vaters, war mit meiner Betreuung von Anfang an überfordert. Sie, die einzige lebende Verwandte, hätte mir eigentlich nahestehen müssen, doch empfand ich mehr Verbundenheit zu Gowindi als zu ihr. Wir hatten es gründlich versäumt, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen als ich noch kleiner war. Womöglich lag es aber auch an der offenen Abneigung zwischen ihr und Jezzie, meiner Mutter. Beide Frauen hatten einander misstraut, sehr zum Missfallen meines Vaters, dem es nie gelungen war, die beiden einander näherzubringen. Mir war nie ganz klar gewesen, wem ich die Schuld dafür geben durfte. Mit Mutters Tod waren die Würfel endgültig gefallen. Natürlich machte ich nun die ungeliebte Tante verantwortlich und ließ es sie spüren. Sie bemühte sich redlich, tat alles in ihrer Macht stehende, um mich, den traumatisierten Balg, aufzufangen. Doch hatte sie nicht den Hauch einer Chance. Wie sollte man jemanden auffangen, der nicht aufgefangen werden wollte?
Niemand außer Gowindi fand noch Zugang zu mir. Er, der Außerirdische, mutierte zum Elternersatz. Wer immer es wagte, sich meiner annehmen zu wollen – und es gab einige wenn auch halbherzige Versuche besorgter
Mitmenschen – wurde gnadenlos weggebissen. Unnahbarer konnte ein Halbwüchsiger nicht sein.
Ylvie warf schließlich ein gutes Jahr nach dem Weggang meines Vaters das Handtuch. Kein Wunder. Ich hatte sie, die alles gab, mit Verachtung gestraft. Eines Tages teilte sie mir mit, meine Boshaftigkeiten nicht mehr auszuhalten. Sie fühle sich nicht länger verantwortlich. Ich dürfe tun, was ich wollte, sei nun alt genug. Lächerlich! Ich war gerade siebzehn Jahre und es gewohnt, die Hand, die mich fütterte, erbarmungslos zu beißen. Warnungen hatte sie genügend ausgesprochen, doch nahm ich sie zu keiner Zeit ernst. Im Gegenteil. Keine Sekunde ließ ich aus, sie zu verspotten, zu verhöhnen und zu verletzen. Jetzt, wo sie sich endlich zurückzog und ich vor den Konsequenzen meiner monatelangen Attacken stand, spürte ich merkwürdigerweise so etwas wie Reue. Doch niemals wäre es möglich gewesen, sie in Worte zu fassen oder mir sogar so etwas Undenkbares wie eine Entschuldigung abzuringen. Mein eiskaltes Lächeln im Moment der Wahrheit musste Beweis genug für sie gewesen sein, die richtige Entscheidung gefällt zu haben. Sie hätte mir die Sterne vom Himmel holen können, ich würde sie dafür verachtet haben. Mein Selbsthass überwog alles. Nichts und niemand, schon gar nicht eine liebende Hand, hätte mir helfen können. Mir war nur auf eine Weise zu helfen. Ylvie hatte es folgerichtig erkannt: ich musste ganz alleine zu mir finden, ohne jede Hilfe von außen.
Sie tat genau das Richtige und stieß mich endlich ins kalte Wasser. Ich sollte schwimmen oder untergehen. Schon mein verletzter Stolz zwang dazu, letzteres nicht zuzulassen. Ich schwamm. Wenn auch nicht auf die Art und Weise, wie sie es vielleicht erwartet hätte.
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