Mutter mich unterrichtete (was glücklicherweise selten vorkam), schien es für den Toorag kein Problem darzustellen. Er richtete sich komplett nach mir. Der Kommunikator stellte dabei ein wichtiges Bindeglied dar. Er funktionierte auch in Abwesenheit meines neuen Freundes. Wollte ich mit ihm sprechen, musste ich nur in den blauen Magneten quatschen und bekam meistens sofort Antwort. Anfangs überwältigte mich diese neue, aufregende Art der Kommunikation, doch empfand ich sie schon sehr bald als etwas völlig Normales. Leider schien es nur in eine Richtung zu funktionieren. Nicht ein einziges Mal trat der Toorag von sich aus mit mir in Kontakt. Vielleicht auch ganz gut so.
„Hast du keine Verpflichtungen bei dir zuhause?“ fragte ich ihn eines Tages. Der Gedanke, er durfte den ganzen lieben langen Tag tun, was ihm beliebte, stimmte mich neidisch.
„Nein“, tönte es aus dem Kommunikator. „Ich bin noch nicht alt genug.“
Interessant. Dieses Thema hatten wir bisher noch gar nicht angeschnitten. Da er kleiner als ich war, nahm ich bisher an, er wäre auch der Jüngere. Wie sehr ich danebengelegen hatte, sollte sich jetzt herausstellen.
„Ach so? Wie alt bist du denn?“ Und bevor er mir irgendeine fremdartige Zeiteinheit auftischen konnte, fügte ich noch schnell hinzu: „In Jahren, wenn ich bitten darf.“
„Siebenunddreißig Gondwanajahre, zwei Gondwanamonate und achtunddreißig Gondwanatage“, kam die präzise Antwort wie aus der Pistole geschossen.
Ich glaubte mich verhört zu haben. „Ist nicht wahr!“
„Oh doch, Freund Jack.“ Hin und wieder vergaß er, mich nicht ständig ‚Freund‘ zu nennen, allerdings sah ich großzügig darüber hinweg. Mit jedem neuen Tag, den ich mit dem Toorag verbrachte, erweiterte sich mein Horizont. Was konnte besser dabei helfen, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, als der freundliche Kontakt zu Außerirdischen? Demnach lebten sie deutlich länger wie Menschen, was ihre überaus zeitraubende Kinderstube erklärte. Vor dem vierzigsten Lebensjahr galten sie zumindest nicht als „erwachsen“, was immer dieser Begriff auch genau aussagen mochte.
„In drei Jahren bist du dann also groß“, scherzte ich.
„Oh nein, ich werde nicht mehr größer. Ich bin bereits seit drei Jahren
gowindi.“
Zum ersten Mal bediente der Kommunikator ein Wort, welches keinen Sinn ergab.
„Wie bitte? Was bist du seit drei Jahren?“
„Gowindi“, wiederholte der Toorags standhaft.
„Was soll das bedeuten?“ Mein Gesicht formte das berühmte einzige Fragezeichen. „Ein solches Wort gibt es in meiner Sprache nicht.“
In der Tat existierte kein gleichbedeutendes Wort, das er mir hätte erklären können, wie sich schnell herausstellen sollte. Wir waren auf ein Novum gestoßen. Es gab also visuelle Signale, die sich zwar akustisch übersetzen ließen, aber dennoch null Sinn ergaben. Wie außergewöhnlich! So etwas hatte früher oder später passieren müssen. Die Erklärung erfolgte auch sogleich: auf dem Weg zum Erwachsenendasein durchschritten Toorags demnach drei Vorstufen: Kindheit, Adoleszenz und „Gowindi“, nichts anderes als ein zusätzlicher Zeitraum, in welchem der Heranwachsende den ultimativen geistigen Reifegrad erlangte. Der letzte Schliff sozusagen.
„Ich habe zwar wenig Ahnung, wovon du da sabbelst, aber immerhin hast du jetzt deinen Namen weg!“ rief ich triumphierend.
„Ich ‚sabbele‘ und habe meinen Namen ‚weg‘!?“ Bei derartigem Slang stieß augenscheinlich auch die ausgefeilte Tooragtechnik an ihre Grenzen. Unwillkürlich musste ich grinsen. Von nun an nannte ich den kleinen Toorag bei allen möglichen Gelegenheiten bei seinem neuen Namen: Gowindi. Mochte es für ihn noch so wenig Sinn ergeben.
Um diese Zeit veränderte sich mein noch junges Leben grundlegend. Mit dem plötzlichen Tod meiner Mutter fing es an. Maligne Neoplasie, wie Vater es nannte. Ihr Zustand verschlechterte sich rapide, und ehe ich realisierte, was eigentlich los war, war sie gestorben. Damals war ich gerade fünfzehn Jahre alt geworden. Die Tragweite des Ereignisses überforderte mich komplett. Mein Vater tat sein Möglichstes, um den herben Verlust abzufangen, doch spürte ich, wie wenig er selbst mit der neuen Situation zurechtkam. Ich empfand damals nur Verachtung für ihn. Wie hatte er es zulassen können, dass Mutter einfach so von uns ging? Er hätte es verhindern müssen, egal wie, er hätte es niemals geschehen lassen dürfen.
Gleichwohl war es passiert.
Heute schäme ich mich dafür, doch in jenen Tagen hasste ich meinen Vater bis auf die Grundfesten seiner gebrochenen Existenz. Er litt unsäglich, womöglich mehr als ich. Zu keiner Zeit jedoch sah ich eine Möglichkeit, mich in seine Situation hineinzuversetzen. Im Mittelpunkt meines Lebens stand ich, ausschließlich ich. Da gab es niemand anderen. Symptomatisch für einen traumatisierten Jungen meines Alters? Vielleicht. Mir blieb nur Gowindi, meine Krötenfresse. Und er zeigte mehr Mitgefühl, als es irgendein menschliches Wesen hätte tun können. Er avancierte zur einzigen Bezugsperson, als ich meinen Vater aus dem Herzen verbannte und ihm jeden weiteren Zugang verwehrte.
Es wunderte mich auch wenig, dass er eines Tages ebenfalls fort war. Oh ja, ich kannte die Geschichte bereits, die er mir in seinem Abschiedsbrief auftischte: es gab da jemanden, dem er etwas schuldig war, einen gewissen Kincaid Sprent. Ich weiß nicht mehr, wie oft er von ihm gesprochen hatte, oft genug jedenfalls. An diesen Namen erinnerte ich mich bestens.
Kincaid Sprent!
Nun war mein Vater also nach Sahul unterwegs, um diesen mysteriösen Kincaid Sprent zu suchen, den er seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Dabei spielte der Umstand, mich alleine zurückgelassen zu haben, zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr beschäftigte mich die Tatsache, wie er es geschafft hatte, von Gondwana wegzukommen. Ohne Unterstützung der Toorags hätte er den Planeten niemals verlassen können. Sie hatten ihm dabei geholfen, Gowindi bestätigte dies unverhohlen. Er sah keinen Grund, mir die Wahrheit zu verschweigen, was ich ihm, wie so vieles andere auch, hoch anrechnete.
„Wieso habt ihr ihn unterstützt?“ wollte ich wissen. Vater hatte nie davon gesprochen, jemals mit Toorags in Kontakt gestanden zu haben. Und jetzt erfuhr ich, sie waren soeben dabei, ihn auf einen anderen Planeten zu verfrachten. Das machte wenig Sinn.
„Wie du bereits weißt, sind wir auf Gondwana, um euch Menschen zu beschützen, Freund Jack.“
„Vor wem, Gowindi? Vor wem beschützt ihr uns? Hier drohen keine Gefahren, höchstens ein Ichthyon könnte mir gefährlich werden. Du kannst mir nicht erzählen, ihr seid hier, um uns vor Bedrohungen aus den Tiefen der Tethys zu
bewahren.“
„Nein, davor sicher nicht.“
„Wovor dann?“
Gowindi zögerte. Welche Worte er sich auch immer zurechtlegte, sie schienen schwer zu finden zu sein.
„Dein Vater ist ein spezieller Mensch, wie du vielleicht schon weißt“, fing er schließlich an. „Im landläufigen Sinn ist er gar kein richtiger Mensch.“
Im landläufigen Sinn! Das geschwollene Gefasel aus dem Kommunikator ärgerte mich plötzlich.
„Worauf willst du hinaus? Sprich klar und deutlich mit mir!“
„Wirst du böse, Freund Jack?“
„Nein, natürlich nicht!“ wiegelte ich ab. „Nur... ich verstehe nicht, was du sagst. Wieso ist mein Vater kein... richtiger Mensch? Hat das etwas mit eurer mysteriösen Rolle hier zu tun?“
„Ich weiß, er belastete dich damit nie. Und doch gibt es etwas, das du wissen solltest, um zu verstehen. Jetzt, wo er fort ist, allemal.“
Pause.
Mein erwartungsvoller Blick schaltete auf fordernd um. Bisher hatte der kleine Toorag noch nie um den heißen Brei geredet, was mich besonders ungeduldig werden ließ.
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