So lernte ich eines Tages Gowindi kennen, dessen unverhohlene, in den Augen seiner Sippe wahrscheinlich ebenso abartige, Begeisterung für homo sapiens dazu führte, dass wir einander begegnen mussten.
Normalerweise gingen sich Menschen und Toorags aus dem Weg. Zufällige Begegnungen fanden ein schnelles Ende, man vermied einander so gut es ging.
Gowindi stellte eine Ausnahme dar. Zuweilen hatte ich mir einen Spaß daraus gemacht, schnurgerade auf einen Toorag zuzumarschieren, wenn ich denn einmal einen sah. Üblicherweise zogen sie sich eilends zurück, als jagte ich ihnen Angst ein.
Nicht so Gowindi. Er blieb wie angewurzelt stehen und wartete ab. Noch niemals zuvor war ich einem Toorag so nahe gekommen und bekam zum ersten Mal aus nächster Nähe mit, wie sie eigentlich aussahen.
Der erste genauere Eindruck sagte mir wenig zu. Ihre pechschwarzen, lidlosen Augen stießen mich ab, sie wirkten leblos, tot. Die knöchernen, grünlich schimmernden Wülste, welche sie wie ein Wall umgaben, trugen auch nicht sonderlich dazu bei, Vertrauen zu fassen. Zudem flatterte in unheimlicher Regelmäßigkeit ein grauer Schatten über die tief in den Höhlen sitzenden Augäpfel, eine Nickhaut, ähnlich wie bei Moas. Allein ihre menschenähnliche Gestalt half dabei, nicht wieder den Rückwärtsgang einzulegen. Auch die Tatsache, dass sie Kleidung trugen (wenn man die schlichte dunkle Kutte so bezeichnen mochte), hatte etwas zart Vertrauenserweckendes an sich.
Beherzt wagte ich den ersten Schritt. Einfach umkehren konnte und wollte ich nicht. „Hallo“, krächzte ich also, räusperte mich und legte sogleich mit festerer Stimme nach: „Wie heißt du?“
Keine Reaktion. Lediglich eine flache Hautpartie, welche von der nicht vorhandenen Nase bis hinunter zur Lippe reichte, bewegte sich sacht im – wie ich annahm – Takt der nicht hörbaren Atemzüge.
„Kannst du nicht sprechen?“ fragte ich kühner. Nein, konnte er nicht. Wusste ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht. Er schien mich jedoch zu verstehen, denn als er kaum merklich den Kopf schüttelte, war klar, was er mitteilen wollte.
Das Objekt meines Forschungstriebs, der halbwüchsige Toorag, reichte mir bis zum Hals, ich war also einen ganzen Kopf größer. So konnte ich die tiefen, kreisförmigen Einkerbungen, welche sich auf der Oberseite seines haarlosen Schädels wanden, besonders gut erkennen. Als wäre er irgendwann mit einer riesigen Stanze in Kontakt gekommen. Gruselig. Ich ließ mir allerdings nicht anmerken, wie ausgesprochen hässlich er mir vorkam.
„Du sprichst also nicht“, stellte ich daher einigermaßen frustriert fest. „Aber du kapierst, was ich sage, ja?“
Da hob er einen spindeldürren Zeigefinger und hielt ihn mir knapp unter die
Nase. Ich erschrak entsprechend, zuckte jedoch nur kurz zurück. Einen winzigen Moment legte sich der Finger auf meine Lippen, begleitet von erneutem Kopfschütteln. Die unerwartete Berührung ließ mich erschauern, doch mutete sie zu keiner Zeit unangenehm an.
„Du sprichst also nicht mit dem Mund?“ bemerkte ich folgerichtig. Jetzt nickte das Wesen. Okay, es verstand mich in der Tat. Mein Herz schlug schneller. Die Tatsache, mit einem waschechten Toorag in Kontakt getreten zu sein, der zudem auch noch mitbekam, was ich von ihm wollte, erfüllte mich mit heller Aufregung. „Womit dann?“
Flugs tippte sich der Toorag mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.
„Du sprichst mit deinem Kopf?“ Es klang idiotisch.
Da ging er in die Knie und begann mit Hilfe seiner mageren Finger (nur vier pro Hand, wie ich aufmerksam registrierte) etwas in den Sand zu zeichnen. Buchstaben! Er konnte schreiben! Und das in meiner Sprache! Mein Respekt wuchs.
„Morgen…“, las ich.
Der Toorag nickte heftig. Zum ersten Mal sah ich ihn den Kopf ordentlich bewegen. Eindeutig kopierte er menschliche Gesten, um sich verständlich zu machen. Mein Gesicht verzog sich anerkennend zu einem breiten Grinsen, welches er interessiert beäugte. Versuchte er etwa erneut, mich zu imitieren? Es gelang jedenfalls nicht.
„Was ist morgen?“ fragte ich ihn. „Willst du mich morgen wieder hier treffen?“
Sein neuerliches Nicken fiel schon menschlicher aus, wenn auch weiterhin gekünstelt. Dann hob er die Rechte und hielt mir vier gespreizte, knochige Finger entgegen. Eine Geste des Abschieds? Im Gegenzug reichte ich ihm die Hand, welche er jedoch nicht ergriff, sondern alarmiert begutachtete.
„Nimm sie, bitte!“ forderte ich ihn auf. „Nur keine Hemmungen!“
Keine Reaktion. Bevor er seine Klaue zurückziehen konnte, griff ich entschlossen zu und drückte sie sachte wie einen äußerst zerbrechlichen Gegenstand. Wie knochentrocken und kalt sich seine Pfote anfühlte! Ein Ruck ging durch den grasgrünen Körper des Toorags. Wahrscheinlich war es auch für ihn der erste direkte Kontakt mit einem Außerirdischen. Zu meiner Erleichterung ergriff er nicht die Flucht – oder schlimmer – schlug mich auf der Stelle zusammen.
„So sagen wir auf Wiedersehen“, legte ich nach. „Verstehst du?“
Für einen Moment schien er sogar den leichten Druck erwidern zu wollen, zog aber dann doch die knorrige Kralle zurück und lief eilig davon. Von hinten wirkte der hagere Körper noch fragiler.
Ich verharrte eine ganze Weile, bevor ich nach Hause zurückkehrte. Nicht ein Wort von dem, was ich erlebt hatte, kam über meine Lippen. Mir war klar, auf wenig Gegenliebe zu stoßen, würde ich das Erlebnis teilen wollen. So sollte es vorerst ein Geheimnis bleiben.
Anderntags kehrte ich zum vereinbarten Treffpunkt zurück, überzeugt davon, den Toorag niemals wieder zu sehen. Schon die ganze Nacht hatte ich so gut wie kein Auge zugemacht, war von einem schlafraubenden Extrem ins nächste gestürzt. Vorfreude hatte sich schleichend in Misstrauen verwandelt. Hegte das fremde Wesen am Ende einen düsteren Plan? Wollte es mir vielleicht Böses? Die Skala meiner Befürchtungen wäre der ideale Nährboden für düstere Alpträume gewesen, doch da ich ohnehin wenig Schlaf fand, blieb keine Zeit zum Träumen. Bei Sonnenaufgang betrachtete ich das Vorhaben wieder deutlich zuversichtlicher und fand für die albernen nächtlichen Ängste nur noch müdes Kopfschütteln.
Entgegen aller Erwartungen sah ich den kleinen Toorag schon von weitem. Er war also doch gekommen – und erneut allein. Mein Herz klopfte mächtig vor Aufregung.
Als wir uns gegenüberstanden, überreichte mir der Toorag ohne jede wie auch immer geartete Begrüßung ein Geschenk. Überwältigt nahm ich es in Augenschein. Ein dünnes, mehrfach ineinander verschlungenes Lederband mit Magnetverschluss. Wenig Ahnung hatte ich, was damit zu tun war und untersuchte es von allen Seiten wie das kostbare Gehäuse einer angeschwemmten Seeschnecke.
„Vielen Dank!“ sagte ich endlich. Insgeheim ärgerte ich mich, nicht an Ähnliches gedacht zu haben, was die eindeutig besseren Manieren des Außerirdischen bewies. „Was ist das, mein Freund?“
Der Toorag nahm es mir vorsichtig wieder aus den Händen und wedelte damit vor meiner Nase herum. Endlich verstand ich, was er wollte: mir das Band um den Hals legen. Intuitiv schreckte ich davor zurück, ließ ihn aber machen. Mit einem leisen Klickgeräusch schnappte der Magnet zu. Das Band lag locker um
den Hals, der kühle, bläulich schimmernde Verschluss ruhte einen Fingerbreit über meinem Brustbein. Noch immer nicht ganz überzeugt, blickte ich nach unten. Die wilden Befürchtungen der Nacht kehrten zurück. Was hatte es damit auf sich? Wieso um alles in der Welt beschenkte mich der…
Und dann fuhr ich wie zu Tode erschrocken zusammen!
Der vermeintliche Verschluss flackerte in dem Moment kobaltblau auf, als eine Stimme aus ihm drang. Hell und blechern. „Das ist ein Kommunikator. Freund.“
Entsetzt starrte ich auf das Teufelsding, drauf und dran, es abzureißen, bis ich endlich begriff. Aus großen Augen starrte ich den Toorag an, der völlig ungerührt vor mir stand.
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