Boris Born - Zwanzig Zwanzig

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Der erste Teil des Romans spielt in der Underground-Kunstszene Londons zur Jahrtausendwende. Jannek, der aus Berlin gekommen ist und erfolglos aber voller Enthusiasmus abstrakte Bilder malt und sein Freund Gary, der aus dem Norden Englands stammt arbeiten im selben Atelierkomplex in einer ehemaligen Fabrik in Ost-London. Als allen Künstlern gekündigt wird, ziehen Gary und Jannek in eine Arkade unter eine Eisenbahnlinie. Ihre Freundschaft ist durch die äußeren und inneren Veränderungen diversen Belastungen ausgesetzt. Am Schluss haben sie sich auseinandergelebt.
Im zweiten Teil zerstört im Sommer 2018 ein heftiger Sonnensturm die Stromversorgung in England. In der Folge lösen sich die gesellschaftlichen Strukturen sofort auf. Gary verbindet mit der Hilfe einiger Nachbarn die Reihenhäuser des Blocks zu einer Art 'Festung'. So versucht er, das Überleben zu sichern. Außerhalb des Blocks herrschen Chaos und Faustrecht und gibt keine 'regierende Kraft' mehr. Der Ort wird zu ein Sammelpunkt für die unterschiedlichsten Leute. Besonders hart wird der erste Winter (2018/19): die Lebensmittel werden knapp und die Bewohner müssen sich diversen Angriffen erwehren. Im Frühling 2019 machen Gary und Jannek einen Ausflug und bekommen einen Eindruck vom apokalyptischen Ausmaß in ihrem Bezirk. Aber sie erfahren auch Positives, denn sie treffen auf einen alten Freund. Danach beginnt Jannek wieder zu malen und verkauft seine Bilder auf einem 'kleinen Markt'. Jannek erfährt nun den Erfolg, der ihm früher nie zuteilwerden konnte.

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Zwanzig Zwanzig

B.Born

Auftakt - Der dritte Pilz

*

Das Meer ist aufgepeitscht. Jannek ist aufgewühlt wie das Meer. Der Wind wirft seine strähnigen Haare durcheinander und sein Herz macht einen Sprung mitten in die Euphoriezone.

Er hat Toshiko und Maud vergessen, die mit einer Seekrankheit kämpfend irgendwo unter Deck auf roten Bänken sitzen und aus der vom Meerwasser verspritzten Scheibe sehen. Eine Möwe schreit, krakelt, dreht ab zu einem braunen Segelboot mit schwarzen Segeln, das sich der Fähre nähert. Es kann eine ganze Weile mithalten, bis es wieder etwas zurückfällt. Es ist ein Plattbodenschiff, denn es hat keinen Kiel, sondern zwei Seitenschwerter, die, wenn nötig, in das Wasser hinabgelassen werden können. Jannek macht Fotos, denn er findet das Boot sieht sehr schön aus wie ein Piratenschiff. Die Leute neben ihm winken schwachsinnig.

Am Nachmittag legt die Fähre am Hafen der Westfriesischen Insel Terschelling an. Jannek, Toshiko und Maud steigen schnaufend in einen Bus um, stellen ihr Gepäck hin, setzen sich und während der Bus auf der einzigen Straße durch die flache grüne Landschaft gleitet, sehen sie aus den Fenstern, drehen und wenden ihre Köpfe. Aufgeplusterte Krähen sitzen auf dem Gras einer Weide, die mit blühendem Löwenzahn überzogen ist. Auf der nächsten Wiese stehen tausende Möwen jede für sich wie Punkte auf einer Tischdecke. Ein Dorf und eine Haltestelle. Fast alle Passagiere steigen aus. Touristen flanieren, essen Eis, Pizza, Kuchen. Junge Männer schieben Einkaufswägen mit jeweils vier Bierkästen in die Richtung, in die ein Schild einen Campingplatz anzeigt. Andere transportieren leere Kästen zurück zum Supermarkt.

Oosterend ist das letzte Dorf auf der Insel. Toshiko, Maud und Jannek ziehen ihre Rollkoffer die Straße hoch. Pferde stehen an einem Trog, kauen, erholen ihre Rücken, von den Touristen, die sie tagsüber durch die Dünen und das Watt geschleppt haben. Sie biegen auf einen grasbewachsenen Feldweg ein. Die Kofferräder drehen sich kaum noch. Ein Kiebitz pickt nach Würmern, eine Gruppe schwarzer Stare sitzt auf dem Futtertrog einer Kuhweide.

Noch am späten Abend drängt es Jannek auf den Deich. Er geht allein. Der Wind hat sich beruhigt. Das Meer liegt seicht und silbrig vor ihm. In der Ferne im Dunst sieht er das Festland. Es scheint auf dem Wasser zu stehen wie eine Fata Morgana. In einem Schornstein einer Raffinerie brennt ein Feuer. Der Deich ist begrast und voller Schafkot, alter, vertrockneter und frischer, weicher und Jannek muss sehr aufpassen, denn es ist sehr schwer nicht hineinzutreten. Die Schafe blöken wie verrückt. Eine Mutter ruft ihre schon fast erwachsenen Jungen. Es kommen gleich drei angelaufen und hämmern mit dem Kopf nach Milch. So scheint sie sich das nicht vorgestellt zu haben, aber als sie es endlich zulässt, wedeln die Jungen begeistert mit ihren Schwänzchen.

*

Am nächsten Morgen erwacht Jannek im Zwielicht der etwas muffigen Hütte. Er stöbert herum. Draußen ist greller Sonnenschein, aber drinnen muss man Licht anhaben. Obwohl es nicht an Lampen mangelt: große, kleine, alle im arabischen oder türkischen Stil, mit in Kupferblech eingelassenen, bunten Glasplättchen und Steinverzierungen. Eine Wand ist orange gestrichen, eine andere blau. Goldene zwiebelförmige Bögen, reich verzierte Messingtabletts und anderes auf Arabisch gemachtes Design ist eigentlich kitschig, aber es ist staubig und abgenutzt, dass es einen gewissen Charme bekommen hat. Jannek schüttelt sich, denn er weiß, Tausendundeine Nacht und Couscous wird in seiner Erinnerung mit dieser holländischen Insel eng verbunden sein.

Das winzige Fensterchen im Badezimmer lässt sich nicht schließen und haselnussgroße Mücken fliegen herein. Die Dusche ist kurios. Man duscht mitten im Badezimmer. Der Duschkopf ist einfach an die Wand neben das Waschbecken montiert. Ein Gummischieber an einem Besenstiel, mit dem man hinterher das Wasser in den Gully in der Mitte des klein gekachelten Bodens drücken soll.

Raus. Die Tür ist sehr niedrig und man muss sich weit herunterbeugen, um unbeschadet durchzukommen. Die Strahlen der Morgensonne wärmen erstaunlich. Das Gras verströmt einen intensiven Geruch. Auf dem von Witterung und Holzwürmern zerfressenen Tisch aus groben Holzbalken hockt eine graue, flauschige Katze. Eine dicke, schwarze gesellt sich hinzu und sie spielen miteinander. Jannek versucht alles gleichzeitig aufzunehmen: ein schnarrendes Geräusch wie eine schnarchende Kuh, rote Trichterblüten mit einem gelben Schlund an umgeknickten zwei Meter hohen Stängeln, Kornblumen, die fast ins violette schlagen, bunt bemalte, an einen Holzpfeiler genagelte, ausgetragene Holzschuhe, ein Zaun aus groben Holzklötzen. Maud gesellt sich zu ihm. Sie ist wie immer wie aus dem Ei gepellt. Die schwarzen Haare glattgekämmt, ein Pony wie eine Messerkante und den Rest in eine saubere, hellblaue Jeans und ein gebügeltes, weißes T-Shirt verpackt. Er kommt sich mit seiner Schlafanzughose und dem abgestoßenen Hemd dagegen ungehobelt vor. Sie sagt nahezu höflich: „Guten Morgen“ und breitet die Skizzenblöcke aus, die sie mit herausgebracht hat, füllt Wasser in zwei Gläser, öffnet zwei Metallkästen mit Aquarellfarben, verteilt Pinsel und Graphitstifte zwischen ihnen und setzt sich Jannek gegenüber. Jannek erinnert sich, dass sie schon, als sie erst vier Jahre alt war, im Urlaub zusammen gemalt haben. Nun ist sie schon 19 und hat gerade ein Jurastudium begonnen. Wie schnell die Zeit verrinnt. Nicht wirklich. Nein. Aber es waren kompakte und intensive Jahre gewesen, die volles Engagement erfordert hatten. Er prüft, wie sehr der Tisch wackelt und ob er eine Stelle finden kann, die glatter ist. Dann malen und zeichnen sie. Erst das Haus, dann den Garten und später die Katze.

Auf einem Nachbargrundstück spielen Kinder mit einem ausgedienten dicken Schiffstau. Sie rufen und hüpfen. Eine Holländerin mit dickem Hinterteil und mit einem Geschirrhandtuch über ihrer Schulter tritt zu Jannek und Maud in den Garten und fragt nach einer Kuchenform, die sie sich ausleihen möchte. Kaum hat Jannek: „Warum nicht“, geantwortet, da wirft sie das Handtuch hin, duckt sich ganz tief herunter, um unversehrt durch die Tür zu kommen, ihr schwarzweißes Kleid bleibt kurz an einem Riegel hängen, sie befreit es wieder und verschwindet im dunklen Inneren des Hauses. Jannek überlegt noch, ob er ihr folgen sollte, da taucht sie mit einer Form unter dem Arm schon wieder auf und erklärt, dass sie vorhätte, für die Kinder einen Apfelkuchen zu backen. Ein Junge schnippt unreife Holunderbeeren herum und rennt gleich wieder fort.

Der erste Programmpunkt nach dem Frühstück ist: Fahrräder ausleihen. Auf einem Weg steht eine große Gruppe Pilze, dessen weiße, gefleckte, bombenförmigen Schirme sich vom Gift schwarz verfärbt haben. Heute geht es an den Strand. Die klassischen Hollandräder rollen gut, aber es geht etwas bergauf. Am Straßenrand Heidekraut, einige Felder und Binsengras.

Der Strand dehnt sich scheinbar unendlich in beide Richtungen aus. Der Sand ist von fast weißlicher Natur und an manchen Stellen fein wie Staub. Warm und weich umschließt er die Füße und lässt den Körper langsam einsinken. Leute spielen eine moderne Abwandlung von Boccia - mit Stöckchen statt Kugeln. Ein Kajakfahrer kämpft gegen Wind und Wellen an. Kinder rennen im seichten Wasser einer Ebbepfütze umher, ziehen ihre Badehosen aus, werden eingefangen, rabiat abgerubbelt und in Sweatshirts gepackt. Die Jacken von Wanderern blähen sich auf. Drei lachende Mädchen in Hotpants schütteln ihre langen, blonden Haare hin und her, toben und üben mit einem Skimboard zu gleiten.

Toshiko und Maud schlagen eine Decke über ihre Beine und trinken grünen Tee aus der Thermoskanne.

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