Frana ließ sich auf der Couch zurückfallen. Gerade jetzt mussten ihre Eltern unerreichbar sein. Das konnte man als Ironie des Schicksals bezeichnen. Nur war ihr so gar nicht zum Lachen zu Mute. Sie kam sich eher vor wie eine Pappfigur, die nach einem heftigen Windstoß gestürzt und nun schwer wieder aufzurichten war.
Ihr Blick wanderte zu dem Raben, der in seinem Nest aus Tüchern ruhte. Er hatte die Augen geschlossen und war wohl mit sich selbst zufrieden. Gern hätte sie dem Vogel einige Fragen gestellt, doch natürlich war er nur ein dummer Vogel, krächzte höchstens selbstgefällig.
Frana verschränkte die Arme vor der Brust und dachte über sich und diese Situation nach. Es konnte ihr eigentlich egal sein, wo sie geboren worden war oder wer ihre richtigen Eltern waren. Sie war die Tochter der Huss’, trug deren Nachnamen und war Teil dieser Familie, seit sie denken konnte. Aber warum sollten ihre Eltern ihre wahre Herkunft verborgen haben? Die beiden waren von Grund auf ehrlich, eine solche Lebenslüge passte nicht zu ihnen.
Unruhig stand Frana auf. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis. Sie wollte nicht an dieses Papier glauben, nicht an den Stempel und die Wahrheit, die sich dahinter verbarg.
»Joshua«, flüsterte sie. Wenn ihr jemand helfen konnte, dann er. Rasch ging Frana zum Telefon und wählte die Nummer ihres besten Freundes. Doch bevor das erste Tuten erklang, legte sie wieder auf. Inzwischen war es mitten in der Nacht, kein Freund der Welt würde jetzt noch gerne ans Telefon gehen. Ganz zu schweigen von Joshua, der täglich Überstunden schob und sich jede Stunde Schlaf redlich verdient hatte.
»Bleib einfach ruhig«, sagte sich Frana, doch so einfach manche Dinge erschienen, so schwer waren sie umzusetzen. Sie räumte das Schlafzimmer ihrer Eltern auf, legte sich schlafen, wälzte sich im Bett jedoch unruhig hin und her. Am Morgen wurde sie unsanft von ihrem Wecker in die Realität zurückgeholt. Ein Tag Druckerei stand ihr unmittelbar bevor.
Als Frana ins Erdgeschoss lief, begrüßte sie der verletzte Rabe mit einem lauten »Rah« auf halbem Weg nach unten. Vor Schreck wäre sie fast von der Treppe gestürzt, konnte sich jedoch gerade noch am Geländer festhalten.
Das Tier hatte sie ganz vergessen. Sie spürte deutlich, wie die Wut des gestrigen Tages erneut aufflammte. Nur wegen ihm war sie doch erst auf die Urkunde gestoßen. Konnte er nicht wenigstens am frühen Morgen den Schnabel halten?
»Morgen«, murmelte sie nur, kochte sich einen starken Kaffee, packte ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Auf der Straße blieb sie stehen. Die Wolkendecke hatte sich noch immer nicht vollständig gelichtet. Die Raben saßen wie eh und je auf ihren angestammten Plätzen. Heute jedoch flogen sie nicht davon, denn ihr sorgenvoller Blick war auf Franas Familienhaus gerichtet, wo ihr Anführer nun verletzt in einem Nest aus Handtüchern schlief.
So ging Frana zum ersten Mal allein zur ihrer Arbeitsstelle und verbrachte dort einen unruhigen Tag. Ihre Ausbildung schimpfte sich Mediengestaltung, aber letztendlich tat sie nicht mehr als Papiere schneiden, Blätter binden und kopieren, kopieren, kopieren. Sie war müde, doch ihre innere Zerrissenheit machte ihr mehr Probleme. Es fiel ihr schwer, sich länger auf etwas zu konzentrieren. Immer wieder dachte sie an den Namen Nemec und was diese Entdeckung mit sich brachte. Mehrfach starrte sie vollkommen abwesend in der Gegend herum.
Nach der Arbeit ging sie zur Stadtbibliothek und suchte in einem Atlas nach ihrem Geburtsort. Hradec Králové oder auch König Grätz, ein Touristenort im Norden Tschechiens. Ein Reiseführer über Tschechien, den sie zusätzlich entlieh, pries den Ort als höchst sehenswert an. Schon auf den ersten Seiten reihte sich eine idyllische Fotografie an die nächste. Alte Gebäude, hohe Türme, ein mittelalterliches Stadtbild.
Mit den Büchern im Gepäck machte sie dann noch einen Zwischenstopp in der Tierhandlung. Weil sie nicht recht wusste, wie sie der Verkäuferin von einem Raben im Wohnzimmer berichten sollte, kaufte sie einfach ein paar lebende Insekten. Die mussten vorerst als Friedensangebot reichen.
Zuhause angekommen, kümmerte sie sich zuerst um das Tier. Sie beobachtete den Raben hockend dabei, wie er ein Insekt nach dem anderen mit dem Schnabel aufpickte und herunterschluckte. Ihr entging nicht, dass er dabei zögerlich war. Aber er fraß und das bedeutete, er war kein Wundervogel, sondern aus Fleisch und Blut. Das war tröstlich, vielleicht war sie doch nicht verrückt.
Als der Rabe zu dösen begann, dachte sie wieder an seine Freunde auf der Esche. In Haussocken ging sie zum Fenster und lauschte in den Abend. Der Wind pfiff um das Haus und das trockene Knarren eines Astes zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, doch vom Krächzen der Raben keine Spur. Sie waren ungewöhnlich still, ihre Beobachter.
Erst danach setzte sich Frana auf den Lieblingssessel ihres Vaters. Ein altes Ledermöbelstück, das ihre Mutter immer als »absolut hässlich« deklarierte. Er gehörte zu den wenigen Einrichtungsgegenständen, bei dem ihr Vater seinen Willen bekommen hatte.
Sie legte die Füße auf den Couchtisch und machte es sich gemütlich. Diesmal hatte sie keine Lust auf den Fernseher, stattdessen sortierte sie ihre Gedanken.
Mit dieser Urkunde und den Artikeln musste sich etwas anfangen lassen. Sie brauchte Gewissheit. Es lag ihr fern, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen.
Natürlich konnte sie immer noch Joshua anrufen und ihn um Rat fragen, aber je mehr sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass sie allein mit ihrer vermeintlichen Adoption klarkommen wollte. Sie dachte daran, ihre Eltern im Urlaub in der Dominikanischen Republik zu kontaktieren, aber auch das verwarf sie schnell. Das Ergebnis wäre ein aufreibendes Gespräch über Meilen hinweg, das ihr niemals die Genugtuung brachte, die sie jetzt brauchte.
Vielleicht sollte sie den gestrigen Fund doch für unwichtig erklären und die Urkunde sowie die Zeitungsartikel vergessen. Die Geburtsurkunde konnte sie einfach an den Fundort zurückzulegen und nie wieder darüber sprechen. Es war vielleicht möglich, zu ignorieren, dass irgendwo da draußen eine andere Welt für sie existiert hatte. Auch die vielen unbeantworteten Fragen in ihrem Kopf konnte sie beiseiteschieben, sie in eine Schatulle schließen und nie wieder anrühren. Dort würde die beklemmende Wahrheit einstauben, zu etwas Unbedeutendem werden und letztendlich für immer vergessen sein.
Das wäre für sie mit großer Wahrscheinlichkeit gesünder. Doch viel wichtiger als das, was sie tun sollte, war die Frage, ob sie es tun konnte. Nein, niemals konnte sie das vergessen.
Sie stand auf, holte aus ihrem Rucksack den Reiseführer und schlug die tschechische Landkarte auf. Ihr Blick blieb auf einem Löwen hängen, der ein goldenes »G« in den Pranken hielt. Das Wahrzeichen der Stadt Hradec Králové. Ein Zufall?
Die Stadt lag vielleicht zwei, drei Stunden Fahrt von Lichtenthal entfernt. Das Auto ihrer Mutter, ein silbergrauer Ford, stand in der Einfahrt. Ein paar Kilometer mehr oder weniger auf dem Tacho würden nicht auffallen. Es wäre ganz einfach, sie musste nur mutig sein und etwas wagen.
Erneut warf sie einen Blick auf den Raben in seinem provisorischen Nest. Er schlief noch immer, den Kopf im Gefieder vergraben. Ein friedliches Bild.
Plötzlich hatte sie einen Namen für ihn. Ein starker Name für einen starken Vogel, der stur immer an ihrer Seite gewesen war. Unwillkürlich musste sie lächeln. Es war unglaublich, doch je länger sie auf die tierische Gestalt blickte, umso menschlicher kam sie ihr vor. Die Federn waren nur Tarnung, der Schnabel aufgesetzt.
»Krystof«, sagte sie und als könne der Vogel sie verstehen, öffnete er mit einem Mal die Augen. Stumm blickte er sie aus tiefschwarzen Augen an. Ein Schauer durchfuhr sie.
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