»Ihr schon wieder«, sagte Frana und versuchte, Ruhe zu bewahren. »Ihr sollt mich doch nicht so erschrecken.«
Das Klopfen erstarb und Frana blickte in die Augen des Raben. Sie spürte etwas auf ihren Schultern lasten. Ein Schatten legte sich über sie und schien sie nach unten zu drücken. Ihr Herz raste.
»Was willst du?«, fragte sie, doch der Vogel blieb ihr die Antwort schuldig. »Soll ich etwa das Fenster öffnen?« Der Rabe legte den Kopf schief. Ein kurzes Krächzen war zu hören, dann landete ein weiterer Rabe auf dem Fensterbrett und neben diesem noch einer.
Frana wurde unwohl zu Mute. Sie hatte die Vögel allerhand beängstigende Dinge tun sehen. Sie waren ihr bis zur Arbeitsstelle gefolgt, hatten ihre Kollegen zu Tode erschreckt oder aber eine Nachbarin angegriffen, als diese sich über Frana beschwerte. Sie hatten sogar eine Katze getötet und den Leichnam wie eine Trophäe ihrer Angriffslust vor Franas Haustür gelegt. Dass sie jedoch so nah bei ihr saßen, sogar versuchten, eine Reaktion zu erzwingen, war neu.
»Oh nein, diesen Gefallen werde ich euch nicht tun.«
Sie wollte das Zimmer verlassen, doch kaum hatte sie sich abgewandt, begann das Klopfen erneut. Diesmal waren es drei Schnäbel, die unaufhörlich gegen das Glas schlugen. Frana zittere.
»Lasst mich in Frieden!«, schrie sie, aber die Raben hörten nicht auf. Tong-Tong, Tong-Tong, machte es und Frana kamen die Schläge vor wie das Donnergrollen eines Blitzes nach dem Aufschlag. Wie erstarrt betrachtete sie die Vögel, bis der große Anführer erneut innehielt, sie ansah und den Schnabel öffnete. Zwei kurze Krächzer drangen aus seiner Kehle. Es klang wie ein Wort.
Langsam ging Frana näher an das Fenster heran. Als sie nur noch einen Schritt entfernt stand, hörten die beiden kleineren Raben mit dem Schauspiel auf, während der Große immer wieder auf die gleiche Weise krächzte. Nur noch das Glas trennte Franas Gesicht von den Vögeln. Und neben dem unaufhörlichen Rauschen des Regens glaubte sie nun ein Wort ganz deutlich zu hören: Frana , krächzte der Rabe, Frana, Frana, Frana .
Vor Schreck wich sie zurück, starrte in die knopfgroßen Augen des Vogels und glaubte, darin etwas zu sehen. Einen Löwen mit Pranken aus Gold und einer feuerroten Zunge, die nach Opfern leckte. Das Bild war nur einen Wimpernschlag lang zu sehen, doch es strahlte hell in den tiefschwarzen Augen des Raben.
Dann wandte Frana sich ab, flüchtete die Treppe hinunter in das fensterlose Bad im Erdgeschoss und fragte sich, ob sie nun vollkommen von Sinnen war oder doch träumte. Vielleicht war sie eingeschlafen und steckte nun in diesem merkwürdigen Szenario fest.
Was, wenn es real war? So verrückt es auch klang. War es denn möglich, dass der Rabe ihren Namen gelernt hatte? War es möglich, dass ein Löwe … vollkommen absurd. Vielleicht spielte ihr jemand einen Streich.
Erst als Franas Herz sich beruhigt hatte und ihre Gedanken wieder klar waren, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Dort ging sie unruhig auf und ab. Sie kam sich hilflos vor.
Sie setzte sich aufs Sofa. Der 22 Uhr Spielfilm lief. Eine Gruppe Jugendlicher auf dem Weg zu einem Saufurlaub, wo sie das Grauen kennenlernten. So ging es doch immer los. Frana nahm die Fernbedienung und schaltete das Gerät aus. Kein Klopfen. Sie atmete tief durch. Alles Einbildung. Die Raben auf den Bäumen, die Raben vor dem Fenster, alles Einbildung. Mit den Händen schlug sie sich gegen die Wangen, ging erneut ins Bad und spritze sich Wasser ins Gesicht. Augenblicklich fühlte sie sich wacher und war bereit, den Tieren den Kampf anzusagen.
Zögerlich trat sie vor die Treppe und lauschte. Stille. Sie atmete tief durch, ging hinauf und schlüpfte in ihr Zimmer. Dieses Mal schaltete sie das Licht ein. Keine Raben am Fenster.
»Oh Mann, ich drehe noch vollkommen durch«, sagte sie.
Doch bevor sie sich entspannen konnte, hörte sie es wieder. Das gleiche rhythmische Klopfen, daneben das Krächzen. Ein bedrückender Chor, der ihr den Verstand raubte. Sie sah zum Fenster und tatsächlich, da saß er, der große Rabe.
»Das ist verrückt«, sagte sie. »Es sind nur Vögel.« Mit diesen Worten im Kopf ging sie auf den Raben zu, holte tief Luft und öffnete das Fenster. Regen tropfte auf ihre Hand. Der Rabe war nur noch einen Atemhauch entfernt. Stumm blickte er sie an.
»Sch«, machte sie und ruderte mit den Armen. Der Vogel tat unverwandt einen Schritt zur Seite und krächzte.
»Verschwinde, hab ich gesagt.« Doch daran dachte er gar nicht. Mit einem Satz flog er über Franas Kopf hinweg. Es war unfassbar. Sie drehte sich um und sah den nassen Vogel auf dem neu gekauften Zimmerteppich sitzen. Sein Gefieder war aufgeplustert, er drehte seinen Kopf nach rechts, dann nach links.
»Zum Teufel, was soll das?«, fragte sie ihn. »Willst du fressen? Ich habe nichts.« Die Arme ausgebreitet, ging sie auf den Vogel zu, machte laute Geräusche und versuchte, ihn aus dem Zimmer zu scheuchen, doch anstatt zurück in Richtung Fenster zu fliegen, verschwand er mit einem kurzen Flügelschlag im Flur.
»Verdammt noch mal«, sagte Frana und folgte dem Vogel die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und weiter ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Sie sah, wie er sich an der Kommode ihrer Mutter zu schaffen machte. Mit dem Schnabel versuchte er, eine Schublade zu öffnen.
Frana wollte den Raben abhalten, doch sie konnte nur an den kräftigen Schnabel und die tote Katze vor ihrer Haustür denken. Die immense Kraft, die dem Tier innewohnte, war unberechenbar. Daher blieb sie auf Abstand.
Der Rabe pickte unterdessen mit dem Schnabel in den Hohlraum zwischen Schrank und Schublade. Er schaffte es sogar, das Fach einen Spalt breit aufzuhebeln.
»Es reicht«, sagte Frana und zitterte. »Es reicht mir jetzt mit dir.«
Sie lief in den Keller und kam mit einem Besen zurück. Inzwischen hatte der Rabe das Fach vollständig geöffnet. Auf dem Boden lagen etliche Papiere verstreut. Es herrschte eine heillose Unordnung und Frana sah sich den ganzen Kram stundenlang sortieren. Mit einem Mal wich jede Furcht aus ihren Gliedern. Nun war sie wütend. Wie konnte es denn sein, dass ihr ein Rabe so viel Mühe machte?
Frana hob den Besen. Sie ging auf den Raben zu, glaubte, er würde flüchten, aber er war zu sehr auf die Papiere konzentriert.
»Das war’s«, sagte sie und schlug zu. Es knackte bedrohlich. Der Vogel prallte gegen die teure Pinienkommode und lag dort einen Moment reglos da. Dann rappelte er sich benommen auf und krächzte. Sein Rufen klang vorwurfsvoll. Erneut hob Frana den Besen. Sie bereitete sich auf einen Angriff vor, doch der Rabe versuchte nur, mit dem Flügel zu schlagen. Es gelang ihm nicht.
Langsam ging Frana auf den Vogel zu. Er wich zurück, versuchte zu fliegen, kam ein paar Zentimeter vorwärts, stürzte jedoch sofort wieder ab. Immer öfter krächzte er und nun glich sein Ruf einem Schmerzensschrei.
Frana wurde von einer Welle Mitleid überrollt. Der Rabe war winzig gegen sie. Er ging ihr gerade bis zur Hälfte des Unterschenkels.
»Du bist selbst schuld mit deiner Gruselshow«, meinte sie laut, obwohl sie doch längst wusste, dass keiner ihre Entschuldigung hörte.
Der Rabe stoppte in seiner Bewegung. »Rah!«, krächzte er und startete einen erneuten Flugversuch. Er landete sanft auf dem Ehebett ihrer Eltern.
»Ich glaub’s doch nicht.« Mit Besen in der Hand, blickte sie auf den schwarzen Vogel, der inmitten des hellblauen Satinbezugs lag. Dieses Bild hatte einen so kräftigen Kontrast, dass es ein ideales Fotomotiv abgeben würde, hätte sie eine Kamera zur Hand.
Frana rannte erneut in den Keller, streifte sich die Gartenjacke ihres Vaters über und zog noch zwei lederne Handschuhe an.
Als sie wieder im Schlafzimmer angekommen war, lag der Vogel noch immer an Ort und Stelle. Sein Körper bewegte sich beim Atmen unruhig auf und ab, der Kopf war zur Seite gesunken. Sie nahm allen Mut zusammen und griff nach dem Tier. Entgegen ihren Erwartungen wehrte sich der Vogel nicht. Sie hob ihn hoch und merkte, wie leicht er war. Ein Fliegengewicht.
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