Frana war als Kind mit ihren Eltern einige Wanderrouten gelaufen. Sie liebte das bis hoch in die Berge schallende Geräusch der Elbefluten, die sich an Felsen brachen. Dennoch war der Gebirgszug für sie ein unüberwindbares Bollwerk zwischen Deutschland und Tschechien.
Während sie auf der Autobahn dahinfuhr, fragte sie sich, ob ihre Eltern absichtlich nie mit ihr nach Tschechien gereist waren. Es war gut möglich, dass sie sich vor Franas Reaktion fürchteten. Sie nahmen vielleicht an, dass ihr in Tschechien etwas bekannt vorkam. Ein Geruch, ein Eindruck, etwas, was die Lüge verriet, die sie lange Zeit aufrecht gehalten hatten.
Tatsache war jedoch, dass Frana sich nur an ihre Zeit in Deutschland erinnerte. Es gab Fotos von ihr, als sie vielleicht zwei Jahre alt gewesen war. Sie mit Kostüm im Kindergarten oder am Strand beim Sandburgenbauen. Ihre Mutter hortete mehrere Alben, die alle Momente in Franas Leben für die Ewigkeit festhalten sollten. Wenn sie überhaupt jemals in Tschechien gelebt hatte, dann nur für eine verschwindend kurze Zeit.
Und trotzdem, da war dieses Gefühl, das sie nie hatte in Worte fassen können. Dieser bittere Gedanke, dass sie nicht hundertprozentig in das kleine Örtchen hinter Dresden passte.
In angetrunkenem Zustand hatte sie Joshua einmal von diesem Gefühl erzählt. Sie war fest davon ausgegangen, er würde es als Einbildung abtun, aber entgegen ihren Erwartungen, hatte er sie verstanden. »Du bist nicht komplett«, hatte er ihr erklärt, und das traf den Nagel auf den Kopf. Sie war schlicht und ergreifend unvollständig.
Ihre Mutter war eine vorsichtige Frau. Sie plante akribisch und mit äußerster Gewissenhaftigkeit. Ihr Vater war ähnlich verbissen, wenn es um Geschäftliches ging.
Zwar war sie in die Rolle der anständigen Tochter hineingewachsen und hatte viel von ihrer Abenteuerlust verloren, doch eine Stimme tief in ihr wollte stets, dass sie nach Neuem suchte.
Warum also konnte sie sich nicht von Lichtenthal lösen? Darauf gab es keine eindeutige Antwort, aber nachts, wenn die Raben vor ihrem Fenster bereits mit dem Krächzen aufgehört hatten, übermannte sie von Zeit zu Zeit eine Angst, die ihr unerklärlich war. Sie fürchtete sich vor den Schatten. Nein, vor jemandem, der sie packen und wegreißen könnte.
Es gab einen Traum, der sie seit ihrer Kindheit verfolgte. Darin war sie in einem alten Haus. Der Geruch von brennendem Holz lag in der Luft. Sie war unweit von ihren Eltern entfernt, aber trotzdem schienen sie unerreichbar zu sein. Frana schrie nach ihnen, streckte die Hände aus, doch egal, wie sehr sie sich streckte, ihre Eltern konnte sie nicht erreichen. Stattdessen überfiel sie etwas und riss sie fort von ihrer Heimat.
Auch jetzt, wo sie sicher im Auto saß und sich vereinzelte Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke drängten, war der Gedanke an diesen Traum verunsichernd. Ja, es war wohl diese Angst, wegen der sie ihr Zuhause einfach nicht verlassen konnte und sich selbst und ihre Neugierde einkerkerte.
Vor ihr tauchte wie aus dem Nichts das Ortsschild von Hradec Králové auf. Sie warf einen raschen Blick auf die Uhr. Zehn Uhr in der Früh am Mittwochmorgen. Sie folgte dem Navi bis ins Zentrum der Stadt, parkte ihr Auto auf einem ausgewiesenen Parkplatz und sah sich um.
So wenig Zeit und schon war sie in einem anderen Land mit fremden Menschen, die sie nicht verstehen konnte. Ein Katzensprung und doch würde sie auf tschechischem Boden stehen, wenn sie das Auto verließ und die Füße auf den Bürgersteig stellte. Ihre Finger wurden kalt. Dies war etwas vollkommen Neues und es machte ihr Spaß.
Frana sah nach draußen. Menschen in warmer Kleidung wanderten durch die Straßen. Herbstlaub bedeckte die Gehwege, wurde vom Wind nach oben gewirbelt, um sich dann andernorts niederzulegen.
Es war nicht viel anders als in Deutschland. Altbauten beherrschten das Straßenbild, ab und an standen Plattenbauten dazwischen und sie entdeckte einige Souvenirgeschäfte. Hochgewachsene Bäume standen in Reih und Glied auf dem Bürgersteig, Graffitis bedeckten einige Häuserfassaden und der Putz an alten Villen blätterte durch die Witterung ab. Ein gewöhnliches Stadtbild.
Vielleicht war Hradec Králové nicht ganz so pompös wie Dresden mit seinen Prunkbauten aus der Zeit von August dem Starken, aber diese unaufdringliche Schönheit gefiel ihr sogar besser.
»Gut«, sagte Frana, »auf geht’s.«
Sie stieg aus und erst da wurde ihr klar, dass sie nicht recht wusste, wohin. Zuerst einmal wollte sie nach ihren biologischen Eltern suchen. Vielleicht konnte sie mit ihnen reden und etwas über ihr Leben in Tschechien erfahren. Ein Bürgerbüro musste her.
Für einen kurzen Augenblick zweifelte Frana daran, dass es so etwas in Tschechien überhaupt gab. Vielleicht wurden Bürgerbelange hier anders geregelt.
Egal , sagte sie sich, Hauptsache, du bist erst einmal in Bewegung . Sie schloss ihren Wagen ab, bemerkte dann das Radio, öffnete die Tür erneut und verstaute es unter dem Sitz. Musste nicht sein, dass ihr jemand die Scheibe einschlug.
Dann lief sie ziellos durch die Stadt. Marktplatz, Touristeninformation, hierhin, dorthin. Erst nach mehrmaligem Passieren etlicher Geschäfte und Sehenswürdigkeiten, wagte sie einen Schritt nach vorn und stellte sich bei der Touristeninformation an.
Die Zeit des Wartens verbrachte sie damit, sich einige Sätze auf Englisch zurechtzulegen, die ihr irgendwie weiterhelfen konnten. Das war ein unmögliches Unterfangen, denn ihr Englischunterricht lag mehrere Jahre zurück.
Als sie an der Reihe war, brachte sie einige klägliche Brocken hervor und stammelte etwas von einem bureau for family service. Ganz sicher eine Fehlentscheidung, denn ihr Gegenüber sah sie mit gerunzelter Stirn fragend an. Sprachen, die waren nie Franas Ding gewesen.
Es nutzte nichts, es mussten Fakten her. Frana holte die Geburtsurkunde hervor, deutete auf die beiden Namen ihrer Eltern und versuchte, der Frau klarzumachen, dass sie diese Personen suchte. Unsicher murmelte sie ein, zwei gebrochene Sätzchen und erntete ein verwundertes Gesicht, doch dann kam die Erkenntnis auf der anderen Seite. Frana war erleichtert, denn binnen kurzer Zeit beschrieb ihr die Frau den Weg zum Bürgerbüro.
***
In der Empfangshalle des Bürgerbüros herrschte reges Treiben. Bewohner von Hradec Králové liefen auf und ab. Absätze klackerten auf Stein und Frana saß wie deplatziert neben einer Kübelpflanze in einer Ecke. Sie hatte ihre Handtasche auf den Schoß gelegt und spielte mit den Henkeln. Sie betrachtete ein Ölgemälde an der Wand. Es war golden gerahmt und zeigte Hradec Králové. Über der Stadt lag eine diesige Morgenluft, die in rötliches Sonnenlicht getaucht war. Wenig vom Licht erhellt, erstreckte sich die Stadt in einem dunklen Tal, wobei in der Mitte der Stadtkern emporragte wie ein besonders wertvolles Ausstellungsstück. Das Bild wirkte melancholisch, sogar ein wenig romantisch und es erinnerte sie an den gestrigen Herbstmorgen in Lichtenthal. Nur fehlten hier die Raben. Doch als Frana genau hinsah, glaubte sie plötzlich unten im Schatten die geduckte Gestalt eines Löwen mit glutroter Zunge sehen zu können.
Gerade wollte sie noch näher an das Bild herantreten, um sicher zu gehen, dass es keine Einbildung war, als jemand ihren Namen rief.
Frana sah zur Seite. Eine Frau mittleren Alters in Hosenanzug kam mit hastigen Schritten auf sie zugelaufen. Ihre Haare waren zu einem Dutt nach oben gebunden, weshalb sie sofort einen strengen Eindruck machte. Sie trug roten Lippenstift, hatte das Gesicht gepudert, in den Händen hielt sie einen kleinen Memoblock.
»Frau Huss«, wiederholte sie und rollte das R dabei etwas zu sehr. »Ich habe gehört, Sie sind wegen einer Angelegenheit Ihrer Eltern hier.« Sehr gutes Deutsch, Frana war erleichtert, dass sie sich nicht erneut mit Englisch durchkämpfen musste. Ganz automatisch lächelte sie, dabei wanderte ihr Blick auf das Namensschild am Blazer der Frau.
Читать дальше