»Richtig, ich wollte den Wohnort meiner Eltern herausfinden, Frau Melnichkowa«, sagte Frana, woraufhin ihre Ansprechpartnerin sie skeptisch betrachtete. Die Frau war nicht sonderlich groß, auch nicht außergewöhnlich hübsch oder schlank, aber etwas an ihr war bemerkenswert. Stolz war es vielleicht.
»Folgen Sie mir«, sagte die Frau und lief los. Es ging über einige Flure in die zweite Etage. Frana konnte Warteräume sehen und erhaschte einen flüchtigen Blick in die Geschäftszimmer.
In einem geräumigen Büro schienen sie dann ihr Ziel erreicht zu haben. Frau Melnichkowa teilte es sich mit einer jüngeren Frau, die über ihre Brille hinweg Frana musterte. Es sah nicht so aus, als würden hier gewöhnlich Leute empfangen werden, deshalb musste ihre Ansprechpartnerin zuerst einen Stuhl für sie freiräumen.
Als sie endlich beide saßen, ergriff Frau Melnichkowa die Initiative: »Ich bin die Einzige hier, die gutes Deutsch spricht, darum soll ich mit Ihnen reden. Wir haben nicht oft Deutsche im Haus.«
Frana nickte. »Verstehe und danke für die Zeit. Wissen Sie, ich habe meine Eltern seit Jahren nicht gesehen und würde gerne mit ihnen Kontakt aufnehmen. Gestern habe ich meine Geburtsurkunde gefunden und dort steht, dass ich hier geboren worden bin. Vielleicht haben meine Eltern auch hier gelebt.« Frana gab der Frau Zeit zu reagieren, doch diese wirkte wie eingefroren. Ihre Mundwinkel zeigten gen Boden, die Lippen waren fest aufeinandergepresst. »Ich … äh …, ich dachte, vielleicht können Sie mir sagen, wo meine Eltern sind. Wissen Sie, ich wusste überhaupt nicht, dass ich in Tschechien geboren worden bin. Können Sie mir da überhaupt helfen?«
»Nun«, begann Frau Melnichkowa und faltete die Hände, »ich kann nur helfen, wenn Ihre Eltern in Hradec Králové gelebt haben. Dann sind sie im Verzeichnis. Kann ich die Urkunde sehen?«
Frana zog sie hervor und reichte sie herüber. Vom Schreibtisch nahm ihre Ansprechpartnerin eine Brille und setzte sie auf, dann las sie einen Moment die Informationen. Noch immer regte sich ihre Miene nicht. Sie war offensichtlich darauf trainiert, keine Emotionen zu zeigen.
»Hier steht Frana Nemec, haben Sie Namen geändert?« Die Frau sah Frana ernst an.
»Ich bin adoptiert«, sagte Frana und zum ersten Mal gab sie dieser Vermutung eine konkrete Form, sprach sie aus und machte sie so zur Wahrheit. Es schmerzte in ihrer Brust, fühlte sich schwer an, so als habe jemand ein bleiernes Gewicht an ihr Herz gehängt.
»Ich brauche Ihren deutschen Pass«, sagte die Frau und streckte Frana die Hand entgegen.
»Sie meinen den Personalausweis?« Anstatt zu antworten, winkte Frau Melnichkowa nur mit der Hand, als würde sie langsam die Geduld verlieren. Daher dachte Frana nicht darüber nach, wieso der Ausweis überhaupt wichtig war, wenn es doch eigentlich um ihre biologischen Eltern ging und eine Geburtsurkunde als Beweis für ihre Herkunft reichen musste.
Kaum hatte Frau Melnichkowa auch den Ausweis bei sich, wandte sie sich an den Computer und tippte eilig.
Auf dem Tisch entdeckte Frana eine Holzuhr mit filigranen Verzierungen. Am oberen Rand war ein Relief in das Holz geschnitzt. Es zeigte das Stadtwappen mit dem Löwen in der Mitte. Es war vermutlich ein antiquarisches Stück, denn der Sockel war vergoldet. Aber eigentlich war Frana nur auf den Löwen fixiert. Sie dachte an die Augen des Raben, an das Bild, an den Reiseführer. War es denn wirklich möglich, dass dieser Löwe sie überallhin begleitete, wie es auch die Raben taten? Hatte er das eventuell schon viel länger getan?
»Nehmen Sie Ihre Papiere. Ich kann nicht viel sagen«, meinte Frau Melnichkowa. »Aber ich kann Ihnen den letzten Wohnort nennen. Ich muss nur kurz mit Chef telefonieren.« Sie drehte sich zur Seite, schnappte sich das Telefon, ohne Franas Zustimmung abzuwarten und tauschte ein paar kurze Sätze auf Tschechisch aus. Beim Sprechen hielt sie eine Hand vor den Mund, um nicht gehört zu werden. Frana fragte sich, ob diese Geheimnistuerei wegen ihr war oder aber der Kollegin.
»Es geht okay«, meinte sie dann, nachdem sie aufgelegt hatte. »Zuerst einmal Frau Huss, Anna und Petrov Nemec sind bereits kurz nach Ihrer Geburt gestorben.«
»Gestorben?«, fragte Frana und umklammerte ihre Hände.
»Richtig, aber sie haben in Hradec Králové gelebt. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen das auf der Karte.«
Aus einer Schublade holte Frau Melnichkowa einen Stadtplan hervor und zeichnete rasch einen Weg bis zum ehemaligen Wohnsitz der Nemecs ein. Es war ein Viertel außerhalb des Zentrums, zehn Minuten Fahrt entfernt. Dort könne Frana sich das ehemalige Haus ihrer Eltern ansehen, mehr war nicht möglich, sagte ihr Frau Melnichkowa.
Als sie geendet hatte und Frana den Stadtplan zuschob, fasste Frana einen eher spontanen Entschluss. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem tschechischen Zeitungsartikel und legte ihn zwischen sich und ihre Gesprächspartnerin.
»Wissen Sie, was das ist?«, fragte sie auf gut Glück. Frau Melnichkowa schob ihre Brille nach oben und las einen Augenblick. Nach einer Weile sah sie auf und räusperte sich.
»Ich weiß nicht. Es ist ein alter Zeitungsartikel.«
»Wissen Sie etwas darüber?« Ein Moment des Schweigens trat ein und Frau Melnichkowa musterte Frana erneut.
»Frau Huss«, sagte ihre Gesprächspartnerin, »ich bin Beamte, keine Polizistin.« Als würde dieser Satz alles erklären. »Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Meinen Sie die Polizei könnte mir helfen?«
»Nein, die haben anderes zu tun, als alte Fall betrachten. Am besten, Sie gehen nach Hause und kümmern sich um Probleme in Deutschland.« Das war eindeutig. Frana bedankte sich, versuchte höflich zu sein, aber Frau Melnichkowa wies ihr nur den Weg aus ihrem Büro.
Kurz darauf war Frana die Treppen des Bürgerbüros nach unten gegangen und trat auf den Platz davor. In der Hand hielt sie die Karte mit der Wegbeschreibung. Ihre tschechischen Eltern waren also tot.
Tschechoslowakei, Dezember 20 Jahre zuvor
Der Boden unter Krystofs Füßen war gefroren. Ein weißer Schimmer lag auf den Gehwegen und ließ die Stadt winterlich erscheinen. Krystof sah seinen Atem kondensieren und auf den Wangen fühlte er den schneidenden Wind. Onkel Nemec schritt voran, warf jedoch immer wieder einen prüfenden Blick in seine Richtung.
Es war später Vormittag an einem Werktag und trotzdem waren viele Leute unterwegs. Das beunruhigte Krystof. Hinter den Menschen konnten Onkel Nemec und er sich leicht verstecken, aber was ihnen Schutz bot, das war auch für diese Leute eine gute Chance, unentdeckt zu bleiben.
Als sie vor dem Eingang des Supermarkts ankamen und Onkel Nemec den Einkaufszettel hervorholte, wandte er sich an Krystof: »Wir müssen nachher noch Medizin kaufen. Darum dürfen wir hier nicht so viel Geld ausgeben, also nichts kaufen, was nicht auf der Liste steht, klar?«
»Verstanden«, meinte Krystof und damit betraten sie das Gebäude, in dem ihnen trockene Wärme entgegenschlug.
Der Supermarkt war überfüllt, helles Licht erleuchtete die Auslagen und präsentierte Waren auf die bestmögliche Weise. Krystof erschien das Licht ungewohnt grell, denn im Bauernhaus war es durch die kleinen Fenster oft sehr dunkel. Schon nach wenigen Minuten begannen seine Augen zu brennen und er musste immer öfter blinzeln.
Er war in seinem Leben noch nie in einem Supermarkt gewesen. Früher hatte eine Angestellte die Einkäufe der Familie getätigt. Krystof, als erster Sohn, war nie mitgenommen worden. Seine Aufgabe war es gewesen, zu lernen, gehorsam und fleißig zu sein. Seine Eltern hatten für ihn eine erfolgreiche Zukunft gewollt und er hatte hart gearbeitet, um sie nicht zu enttäuschen.
Onkel Nemec packte so viel einkochbares Gemüse in den Einkaufswagen, wie er konnte, wies Krystof an, Konserven und Seife zu holen. Es war ein elend langes Suchen. Immer wieder musste sich Krystof durch die Menschen zwängen, um an die Sachen zu kommen. Die verschiedenen Gerüche benebelten ihn. Gewürze, Fisch, Fleisch. Alles war neu, unbekannt und aufregend. Er ließ sich treiben, reagierte automatisch und versank in der Geschäftigkeit seiner Umgebung. Alles war neutral und ungewohnt alltäglich. Das Stimmengewirr um ihn herum war nur ein monotones Murmeln, mehr ein Lallen und das Geräusch der rollenden Einkaufswagen hing über ihm wie das Kling-Klong eines Windspiels. Für eine kurze Zeit konnte Krystof seine eigene düstere Welt verlassen, spürte weder Angst noch Unbehagen noch Glückseligkeit.
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