1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Hans Geyer und seine Kameraden saßen auf harten, eng gestellten Holzbänken. Im Stundentakt standen sie kurz auf um Gelenke und Muskeln aufzulockern.
Obwohl die Reise in den Krieg zwei Tage dauerte, war bei diesem nervenraubenden Gerüttel an Schlaf kaum zu denken. Allein jugendlicher Übermut, der Glaube an einen glorreichen Sieg und die Vorfreude auf großartige Heldenfeiern bewahrte ihre gute Laune.
Kaum in den belgischen Ardennen angekommen, wurde ihnen ohne Aufenthalt befohlen, an die vom Kanonendonner bedrohlich herüber dröhnende französische Front an der Maas zu marschieren.
Der Krieg gewährte keinerlei „Einlernphase“. Schon die ersten Stunden in der durchnässten und dreckigen Stellung riss den Soldaten jegliche Romantik aus den verklärten Hirnen.
Todbringender, feindlicher Artilleriebeschuss, unvermittelter Befehl zum Gegenangriff mit aufgepflanztem Bajonett, heftiges Gewehrfeuer aus den gegnerischen Stellungen, überall Drahtfallen. In blutigem Nahkampf Feinde abstechen, schnell zurück, Minenfeldern und dem Beschuss durch ein tödlich ratterndes Maschinengewehr ausweichen, den schlammigen Morast aus Gesicht und von den Kampfkleidern reiben, kaum Zeit zum Luft holen, schrill um Hilfe bettelnde Verwundete und grausam entstellte Tote bergen, Gegenangriff zurück schlagen, Handgranaten werfen und schießen, Karabiner hektisch laden und wieder schießen. Im Flug heran heulendes, dumpf trommelndes Artilleriefeuer – so heftig hatten sie sich alle einen heroisch angekündigten Feldzug für Gott, Kaiser und Vaterland nicht vorgestellt.
Nicht die zu Hause mit üblen Texten als feige besungenen Franzmänner standen ihnen gegenüber, sondern mutig verteidigende, logistisch ausgeklügelt unterstützte, mit heißem Herzen um ihr Vaterland kämpfende Soldaten.
Bald darauf griffen unerschrocken englische Infanteristen an. Die deutschen Offiziere lästerten: „Die Tommis tragen auf ihren Köpfen umgedreht Blechteller.“ Doch die aus den Kolonialkriegen kampferfahrenen und gut ausgebildeten Engländer schienen die Sticheleien zu hören. Sie glichen ihre Strategien an neue Waffentechniken an und erhöhten den Wechsel zwischen Vorbereiten mit Geschützen und den darauffolgenden Angriffswellen der Kampfeinheiten.
Die ersten Doppeldeckerflugzeuge warfen Bomben vom unschuldigen Himmel, dicke Kanonenrohre und Mörser schickten den Tod über mehrere Kilometer und der als hehr gepriesene Kampf, Mann gegen Mann, wurde in tödlichen Eisensplittern ertränkt.
Um dem Überdruck der geschundenen Psyche ein Ventil zu geben wurde zunächst zögerlich und bald regelmäßig Feldpost zugelassen.
„Allen zur Kenntnisnahme: Briefe mit Geheimnissen, Sabotage durch Verrat und negative Frontmeldungen führen zu einer harten und gerechten Strafe vor dem Kriegsgericht!“ drohte der Kommandant.
Hans Geyer schrieb an seine Maria, im stickigen Schützengraben, nach zwölf Stunden umringt von Blut und Tod im rückwärtigen Ruheraum und später im Lazarett. Zunächst wirkte seine akkurate, gestochen scharfe Sütterlinschrift mit runden Kurven und steilen Spitzen sehr selbstsicher. Später wurde das Schriftbild ungleichmäßiger. Fahrig dahin gesetzt stiegen einzelne Worte in der Schrifthöhe ungelenk an und wurden unvermittelt wieder flach.
„Allerliebste Maria“, begann er jeden Brief und endete alle mit: „Ich komme bald zu Dir nach Hause.“
Die Texte dazwischen änderten sich von Brief zu Brief, waren zunächst noch sehr zuversichtlich:
„Die Frühjahrsoffensive bringt uns endgültig den Sieg!“
Oder: „Alle Kameraden sind frohen Mutes. Wir schlagen dieses Franzosenpack, allsbald!“
Wenig später: „Wir können vom Lärm der Mörser und Granaten, der Abschüsse und der Einschläge, dem Heulen während der Flugbahn kein Auge mehr zu tun. Nicht mal der hinter der Frontlinie tief in die Erde gegrabene Ruheraum verhilft uns zu etwas Schlaf. Ich schreib im Stehen und denk an Dich.“
Im nächsten Brief: „Nun hat es bereits die Hälfte der Kompanie erwischt, gefallen oder verwundet. Mit neuen, oft unerfahrenen, schnell ausgebildeten Soldaten werden wir auf Sollstärke aufgefüllt. Alle kommen sie immer von Heimatoffizieren willig und heiß gemacht. Für die unerbittlich tötende Front sind sie uns jedoch selten hilfreich.“
Danach: „Aus dem geplanten Marsch nach Paris, liebste Maria, wird so schnell nichts. Der Nachschub für Munition und Essensrationen funktioniert nur noch bedingt. Wir sitzen im dreckigen Schlamm des Stellungskrieges fest!“
Nach mehreren Monaten schrieb er ohne Rücksicht auf die Zensur:
„Der Feind und wir setzen nun den gelben Tod aus Gasgranaten ein. Wir haben Gasmasken ausgefasst. Das bedeutet aber auch, dass ich mich wegen der Dichtheit jeden Tag im Stellungsgraben rasieren muss.“
Kurze Zeit danach: „Das war ein höllisches Erlebnis. Nachts zuvor hatten sich in künstlich erzeugtem Nebel, leichtfüßig wie Katzen, dunkelhäutige Gestalten mit den flachen Helmen der Engländer bis wenige Meter vor unsere Stellung herangeschlichen. Es müssen Koloniesoldaten aus Afrika gewesen sein. Am Morgen folgten, mit enormem Getöse, unangreifbare Eisenungetüme. Diese fahren auf Eisenketten und schießen unaufhörlich. Man nennt sie Tanks. Überhaupt ist der Schlachtenlärm noch betäubender geworden, Artillerie mit immer größeren Kanonen schießt in beide Richtungen, bereitet die Angriffe der Infanterie vor. Diese Tanks reißen alles nieder, fahren über unseren gut zwei Meter tiefen Stellungsgraben, drehen darauf und versuchen uns zu verschütten. Unerwartet tauchen am Himmel wieder Flugmaschinen auf und werfen Bomben auf uns herab. Es ist die Hölle!
Gestern drehte neben unserer Stellung ein junger Soldat durch. Er riss sich die Uniformjacke vom Leib, warf den Helm weg, schrie „Aufhören! Aufhören!“ und lief auf die feindlichen Stellungen zu. Er wurde von mehreren Gewehrsalven nach zwanzig Metern tödlich getroffen. Der Inhalt seiner Gedärme ergoss sich über die Uniform. Er wimmerte über Stunden im Todeskampf. Wir konnten ihn wegen andauerndem Feindfeuer erst nach Einbruch der Dunkelheit bergen.“
Die Feldpost verriet nagende Verzweiflung: „Gestern hing ich fast machtlos in einem dieser ekelhaften Stacheldrahtzäune fest, mit denen neuerdings Stellungen abgesichert werden. Kameraden haben in höchster Not meine Uniform freigeschnitten, nun sehe ich zerrissen aus, wie ein Lump. Und amerikanische Soldaten greifen nun auch noch ein, über eine Million ausgeruhter Kämpfer sollen das sein.“
Und drei Monate später schrieb Hans mit schwer lesbarer, zittriger Schrift: „Ich bin seit zwei Wochen unterwegs in einem Lazarettzug. Sie sagen, es gehe Richtung Koblenz. Ich kann mit der Zunge kaum mehr den Tintenstift anfeuchten, das ganze Gesicht ist zugebunden, nur die Augen sind frei. Es riecht ekelig nach Urin, hoffentlich bekomme ich keine Infektion. Krankenschwestern füttern mich. Bekomme aber zu wenig Wasser. Ich hatte in einem Bombentrichter meine Feldflasche verloren und bin nun auf andere angewiesen, doch die dürsten selbst. Aber besser die Haut verbrannt als tot.
Zum Glück erlitt ich bei diesem hinterhältigen Brandangriff mit dem Flammenwerfer einen Schock. Das Feuer fraß meine Haut an Hals und Gesicht. Die Augenbrauen sengte es in Bruchteilen einer Sekunde restlos weg. Es riss mir den Sauerstoff aus Mund und Nase, bis ich bewusstlos zusammenbrach. Die Feinde hielten mich für tot und ließen mich liegen. Ein paar unserer Sanitäter, ich weiß nicht mehr wie viele, haben mich nach schier unerträglich langer Zeit geborgen. Danach bin ich, auf einer Transportbahre liegend, auf dem Verbandsplatz weit hinter der Front, zu mir gekommen. Die eigene verbrannte Haut reizte meine Schleimhäute zum Abhusten. Das stinkt scheußlich, als würde einem Pferd die glühenden Hufeisen angeschlagen.
Читать дальше