„Was nützt ein feuriges Abenteuer, wenn zwei unglückliche Seelen daran zerbrechen und dem Ergebnis daraus wie einem Mischlingshund „Bangert“ hinter hergerufen wird“, redete er sich realitätsnah ein. Meist wurde der Knecht in solchen Fällen vom Hof gejagt und die Jungbäuerin musste sich mit teurer Mitgift in ein weit entferntes Dorf verheiraten lassen, dorthin, wo sich die Schande noch nicht herumgesprochen hatte.
„Ich find bald eine rechtschaffene Frau“, sagte er sich laut tröstend.
Von den Eltern zu Bescheidenheit und Sparsamkeit erzogen, ließ sich Knecht Hans Geyer in dieser Phase der inneren Unruhe bei jeder sich bietenden Gelegenheit von Bildern mit schmucken, adeligen Offizieren beeindrucken. Der Kopfbergbauer spürte dies und erlaubte Hans das Wohnzimmer zu betreten, das nur sonntags nicht abgeschlossen war und das ohne ausdrückliche Erlaubnis weder Mägde, Knechte noch die eigene Tochter Friederike betreten durften.
Der Bauer bat Hans zu sich an den eichenen, ehrwürdigen Schreibsekretär und öffnete mit würdevoller Geste die mit Bienenwachs gut geschmierte Schublade. Er holte den mit dunkelrotem Samt überzogenen Pappkarton heraus, band behutsam die Schleife auf, hob den Deckel und zeigte eine Sammlung kolorierter Schwarzweißfotos.
Breite, adelige Männerbrüste standen im Mittelpunkt, verziert mit Schärpen aus feinster Moireseide und bunten Spangen, überfrachtet mit militärischen Orden. Mächtige, hoch gedrehte Bärte nach wilhelminischer Kaisermode schmückten alle Altersklassen, vorlaut schreiender Prunk und Protz einer Aufsehen erheischenden Soldateska.
Sie nahmen die Schachtel und breiteten den Inhalt auf der Sitzbank des riesigen, grünen Kachelofens aus, der im Winter von der Küche her befeuert wurde. Hans Geyer genoss das Privileg, mit seinem Bauern in der Wohnstube die Bilder von berühmten Heerführern und weitläufigen Verwandten anschauen zu dürfen.
„Na, Hans, gefallen dir Mannen in schmucken Uniformen, mit vielen Auszeichnungen?“ fragte der Kopfbergbauer. „Ich durfte nie eine tragen! Bei der großartigen Schlacht gegen die Franzosen, die diese selbst begonnen hatten, als wir 1870/71 Elsass-Lothringen heim holten, war ich leider zu jung und mittlerweile bin ich zu alt fürs Soldat sein. Das wär doch was für einen aufrechten Kerl wie dich. Ich will dich nicht wegloben aber du bist ein fescher und mutiger Bursch, du kannst in ein paar Jahren fürs Vaterland große Verantwortung tragen.“
„Ja, Bauer, ich geb ihm recht. Eine schicke Uniform, ein Säbel mit kunstvoll geschwungenem Handkorb und ein Gewehr. Das könnt mir gut zu Gesicht stehen“, antwortete Hans mit glühenden Augen.
Einen Monat später erklang von weitem in hellen Tönen die Fanfare des fahrenden Händlers, die Frühjahrestour führte seine pferdebespannte Verkaufskarre wieder nach Hattelfingen. Der hohe Kutschenwagen war außen mit polierten Pfannen, emaillierten Sieben und Kupferkesseln behangen, innen ausgestattet mit einer Vielzahl Schubladen für Stricknadeln, Hosenknöpfen aus Blech, bunten Garnen, Kämmen aus Horn, Schleifsteinen für Messer oder Leder zum Polieren der Rasierklingen.
Der sparsame Knecht Hans Geyer wiegte lange den Kopf hin und her. Nach kurzem Zögern sprach er sich Mut zu: „Ich möchte auch wirken wie die Soldaten auf den Bildern. Ich kaufe mir, wenn der Händler auf unseren Hof fährt, eine schwarze Bartwichse und die passende Bartbinde.“
Und kaum war das Bellen des scharfen Wachhundes verklungen, der an der Verkaufskarre mit Lederriemen in der Nähe der geheimen Geldschublade festgebunden war, hatte Hans sich mit flinken Fingern seinen Oberlippenbart schneidig nach oben gezwirbelt.
Stolz lief er am folgenden Sonntag durch Hattelfingen, nicht überheblich aber aufrecht, mit großen, wachen Augen und selbstbewusster denn je.
Heimlich musterten ihn die jungen Frauen. Manche Magd, die ihm zu einfach war und manche Bauerntochter, die nur kurz aus dem Blickwinkel linsen durfte, drehten sich verstohlen nach ihm um. Das Spiel aller Spiele war in vollem Gange und kreiste auch in diesem verschlafenen Dorf auf Hochtouren. Hans fühlte sich aufgewühlt gut, und dennoch, die sonntägliche Balzschau auf dem breiten Weg zwischen Kirche und steinernem Rathaus verunsicherte ihn eher, als dass sie ihm klare Erkenntnisse gebracht hätte.
So blieb es kaum aus, dass sich nach dem Motto, das Gute, das Bewährte liegt so nah, Knecht Hans Geyer und Magd Maria Renzer vom gleichen Hof näherkamen. Beim Bändertanz unter dem mit Silberdisteln, Stroh, Sicheln, Sensen und bunten Stoffbändern geschmückten Erntedankbaum fasste Hans zart um die schmale Taille von Maria und diese schmiegte Ihren Kopf an seine breiten Schultern. Doch noch ergab sich keine Gelegenheit mehrere Stunden alleine zu sein.
Im Winter sangen sie gemeinsam schwermütige, erdige Volkslieder und im Frühjahr Moritaten, die den Sommer herbeisehnten:
„Mariechen saß weinend im Garten,
im Grase da schlummert ihr Kind,
durch ihre schwarz-braunen Locken,
weht leise der Abendwind…“
Und immer noch traten andere Leute zwischen sie und verhinderten enge Umarmungen.
In den ersten Maitagen dann zogen Magd und Knecht zu Fuß, der Bauer auf seinem Ochsenkarren und die Großbauern mit dem Pferdegespann viele Tage ins Donaumoor hinunter, um Torf zu stechen.
Riesige Mengen Heiztorf mit niedrigem Brennwert wurden dem Moor abgetrotzt, für den nächsten langen, kalten Albwinter. Entwässert wurde diese Feuchtlandschaft zwischen Alb und Donau über den Kaisergraben, der gleichzeitig die Grenze zwischen Bayern und Württemberg darstellte. Das trocken gelegte Moor wurde danach von kräftiger Männerhand mit einem Spaten ähnlichen, U-förmigen Eisenschuh an langer Holzstange, in Brikettform herausgestochen.
Zum Trocknen stapelten Bäuerinnen, Kinder und Mägde die Moorbriketts. Zwei längs, darauf zwei quer, dann wieder zwei längs, zwei quer, bis zu acht Lagen hoch. Harte Arbeit, die schmerzhaft den Rücken beugte. Nach mehreren Monaten der Trocknung, zwischen Ernte und Herbst, wurde das Brennmaterial mit den schweren Ochsenkarren ins Dorf gefahren und in der Scheune neben der Einstreu für den Tierstall oder im Torfstadel gelagert.
Beim Entladen und bereits während der Arbeit im Moor sangen die Frauen Volkslieder: „Wenn wir schon unser Kreuz schinden müssen“, sagten sie, „dann lasst uns wenigstens singen.“
„Ich schlage vor“, sagte die Kopfbergbäuerin, „wir singen nun gemeinsam im Takt:
Ännchen von Tharau ist’s die mir gefällt.“
Und alle stimmten ein:
„Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld.
Ännchen von Tharau hat wieder ihr Herz
Auf mich gerichtet in Lieb und in Schmerz.
Ännchen von Tharau mein Reichtum, mein Gut,
du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!“
Wie so oft waren die meisten mit dem auswendig gelernten Text nach der ersten Strophe am Ende. Doch die Kopfbergbäuerin wollte Grips zeigen und sang laut und auffordernd weiter. Zum Schluss stimmten dann alle wieder ein:
„Ich will dir folgen durch Wälder durch Meer,
durch Eisen, durch Kerker, durch feindliches Heer…
Was hat die Liebe doch für ein Bestand,
wo nicht ein Herz ist, ein Mund, eine Hand?“
Die Arbeit im Donaumoor war mühselig und Kräfte zehrend, sie quälte Bauern und Knechtschaft, Frauen und Männer gleichermaßen. Vom Sonnenaufgang, bis erlösend pünktlich achtzehn Uhr die Betglocke vom Kirchturm herunter schallte, wurde gestochen und gestapelt. Unterbrochen nur alle zwei Stunden durch eine kürzere Pause.
Herber Apfelmost aus einem zur Kühlung mit nassen Lappen umhüllten Tonkrug kreiste dann die Runde, dazu griffen die schwieligen Hände nach dick geschnittenem Schwarzbrot und zur Mittagszeit etwas geräucherten Speck. Eine karge Nahrung in heißer Moorlandschaft.
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