„Was ist ein für mich erreichbares Ziel, Bauer mit eigenem Hof oder Karriere als Soldat?“ fragte sich Hans Geyer weiter, ohne gleich eine Antwort zu suchen.
Von einer konkreten Lebensplanung hatte Knecht Hans noch nie gehört, er war froh und dankbar, dass ihm seine Mutter die Schule ermöglicht hatte. Sie hatte sich als unverheiratete Magd das Schulgeld für ihren Sohn vom Mund abgespart.
Hans Geyer kannte als einziger ihren langen und stets verheimlichten Leidensweg. Sie wurde als eines von vierzehn Kindern über Nacht von einem verarmten Schweizer Kleinbauern nach Deutschland geschickt um einen Esser weniger am Tisch zu haben. Schwabenkinder wurden sie genannt und in einem langen Zug mit anderen Kindern mussten sie in ihren klobigen Holzschuhen vom Graubündener Land über schlammige Bergpfade des Bregenzer Waldes außer Landes ins Oberschwäbische laufen.
Mit 12 Jahren, die Mädchen in Sonntagskleid und mit geblümten Sonntagshut, auf dem Rücken einen Sack mit festen Arbeitskleidern, wurde jedes einzelne der 20 Kinder den Bauern und Handwerkern vorgestellt, die sich billige Jungknechte, Zimmergehilfen oder Hütemädchen aussuchten, wie auf einem Kuh- oder Pferdemarkt.
Sie wurden von oben bis unten gemustert. Gefragt war die Arbeitskraft der Kinder, die ohne Lohn, nur gegen Kost und Logis arbeiten mussten. Hans Geyers Mutter trug bereits in jungen Jahren hartherzige Narben davon.
Und wer sein Vater war erfuhr Hans Geyer nie. Er konnte mit seiner Mutter mitfühlen und dennoch vermisste er immer ein Gefühl der Nähe, etwas das wie Liebe sein könnte. Deshalb war er überglücklich, von seinem Bauern gelobt zu werden, von Maria geliebt zu sein und nun in neuer Uniform wieder bewundert zu werden.
Drei sehr unterschiedliche Seelen schlugen unruhig in seiner aufgewühlten Brust. Eine schicke Soldatenuniform für den Gang zur Kirche und alle festlichen Gelegenheiten? Dagegen Lob vom Bauern für fleißige Hofarbeit als Knecht. Und daneben, so richtig werten wollte er nicht, die Liebe Marias, die er nach außen, in Hattelfingen auf der rauen Schwäbischen Alb, immer noch nicht offen erwidern konnte.
Irgendwie siegte die Uniform über die Routine des alltäglichen. Nur Monate nach dem verlorenen Weltkrieg trat Hans Geyer dem Kyffhäuserbund bei. In diesem Kriegerbund versammelten sich alle Reservisten, die noch gerne Soldat sein wollten oder immer noch alten Zielen nachhingen.
Kaum hatte er den Antrag auf Mitgliedschaft gestellt, wurde ihm durch eine dreiköpfige Abordnung in schwarzen Sonntagsanzügen, Krawatten und polierten Schuhen, Urkunde und eine Medaille aus Messing überbracht, als offen zu tragenden Zeichen der Angehörigen dieses Bundes. „Trag unser Abzeichen mit Stolz!“ wurde Hans Geyer mitgeteilt. Er streichelte die Plakette mit der Aufschrift lange und innig. Mit großen Augen las er:
Blank die Wehr
Rein die Ehr
Und auf der Rückseite den Spruch von Hindenburg:
Aufrecht und stolz
Gehen wir aus dem Kampf
Den wir über vier Jahre
Gegen eine Welt von Feinden bestanden
Für Treue im Weltkriege - Der Kyffhäuserbund
Hans Geyer hing auch diese Medaille behutsam an seine nach dem Krieg weiter gewachsene Ordensspange auf der Ausgehuniform.
Gleichwertig hing dieses Vereinsabzeichen nun zwischen dem für mutigen Kampfeinsatz verliehenen Eisernen Kreuz, der silbernen Treuemedaille des Württembergischen Königs für den Fronteinsatz und dem schwarzen Verwundetenabzeichen.
Direkt beim ersten Treffen, nach kurzer Vorstellung der Neumitglieder, verlas ein Offizier eine Mitteilung der ehemaligen Obersten Heeresleitung. In ihr wurde eine Verschwörungstheorie thematisiert, die noch viele Jahre in verwirrten Köpfen umhergeisterte. Sie bildete die Grundlage für alle nationalistischen Theorien:
„Wir deutschen Soldaten sind im Felde unbesiegt geblieben! Vaterlandslose Zivilisten, zumeist Sozialisten und Juden, haben uns von hinten einen Dolchstoß versetzt! Nun sollen wir in Versailles endgültig in die Knie gezwungen werden!“
Maria Geyer dagegen träumte von einer glücklichen Familie. Wenn sie in einer Arbeitspause lang ausgestreckt auf dem weichen Moorboden lag und den in lauer Luft langsam wie Daunenfedern vorbeiziehende Wolken hinterher sah, gab sie ihren Traum mit auf Reise: „Ich will keinen Helden an meiner Seite. Verschwiegene Stunden in dieser friedlichen Weite bedeuten mir alles. Ja alles.“
Die offen zu Tage getragene Rache in Form hoher Reparationsleistungen, manche Demütigung der Verbündeten gegen Österreich-Deutschland, die im Zorn das Wort Versöhnung vergaßen, förderte solche Theorien. Europa funktionierte nach dem Motto, schlägst du mir einen Zahn aus, schlag ich dir einen Zahn aus oder bringst du meinen Verwandten um, bringe ich deinen Verwandten um oder der letzte Krieg provoziert den nächsten Krieg.
Hans Geyer fühlte sich geehrt, dass die neue Umgebung ihm einen heroischen Kampf bestätigte und ihm sagte, du wurdest verletzt aber nicht besiegt. Selbst gewählte Politiker aller Parteien sprachen vom Diktat von Versailles und zunehmend davon, Schande und Fesseln von Versailles baldigst abschütteln zu müssen.
Andererseits fühlte Hans Geyer, dass er auf den Hof gehörte und nicht in eine Kaserne.
„Maria, willst du mit mir später einen Hof übernehmen, auch wenn wir dafür unsere ganze Kraft opfern müssen?“ fragte er eines Tages, als er frei von allen äußeren Einflüssen versuchte, über seine Zukunft nachzudenken.
„Hans, das ist dein Thema, es ist immer noch Männersache. Doch danke, dass du mich fragst. Ich folge dir überall hin. Am liebsten arbeite ich mit dir auf Äckern und Wiesen und ich bin genau so gerne bei dir wenn wir im Stall die Tiere füttern. Einen Hof unser Eigen zu nennen wäre wunderbar, für dieses Ziel könnte ich auf viel verzichten. Dagegen möchte ich nicht, dass du dich beim Militär weiter verpflichtest und eines Tages im blutigen Feld des Krieges bleibst. Wie du am eigenen Leib erlebt hast, entstehen Kriege nicht aus Vernunft.“
Die unruhigen ersten Nachkriegsjahre vergingen träge schleichend. Sie fühlten sich an wie die nassen Herbstnebel, die jeden November vom Donaumoor heraufzogen und das Atmen erschwerten. In Hattelfingen umso mehr, als hier alle Informationen über Umstürze, des Kaisers Asyl ins holländische Schloss Amerongen und der Kampf um das Überleben der Demokratie durch den ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert, erst Monate später als in den weit entfernten großen Zentren ankam.
Die politische Spannung der Veränderungen erhöhte sich in diesem abgeschiedenen Dorf fernab politischer Entscheidungen nur langsam. Dafür aber unaufhaltsam wie steigendes Hochwasser, dessen zerstörerische Kraft plötzlich über die Ufer schwappt.
Als der deutsche Reichsaußenminister Walther Rathenau von Rechtsextremisten ermordet wurde, weil er als verhasste Symbolfigur der Weimarer Republik galt, trafen sich Bauern und Knechte, geheim, in unterschiedlichen Gasthäusern.
Die Bauern bevorzugten die Hirschenbrauerei in der auch Essen zubereitet wurde, die Knechte trafen sich so oft es der Geldbeutel zuließ beim einfacher bestuhlten und einige Pfennige billigeren Festungswirt.
Die Bauern hatten Angst um Ihre Selbständigkeit, sprachen über das Verhindern der von Kommunisten angedrohten, verhassten Kolchosen. Die Knechte, den Mägden wurde noch kein politisches Stimmrecht zugebilligt, forderten dagegen baldigen Wandel: „Nur weil seit Menschengedenken der Hof per Erbrecht vom Vater auf den ersten Sohn übergeht, bedeutet das noch lange nicht, dass wir Knechte ein Leben lang schuften und die bäuerlichen Herrschaften auf unseren geschundenen Rücken ausgiebig Erntedankfest feiern dürfen!“
„Hans, hast du eine Meinung zu dem was die anderen Knechte schwätzen?“ fragte der Kopfbergbauer.
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