Wie mit Vogel verabredet, rief ich Stange an. Wir trafen uns in seinem Stammlokal »Hongkong«, Kurfürstendamm. Stange war ungemein freundlich. Er brillierte mit Witzen über die DDR. So sprach er nur vom ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat. Es zeigte sich, dass er Kontakte zur Bundesregierung hatte. Es war von Rainer Barzel (Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen 1962–1963) die Rede und von seinem Referenten, Ludwig Rehlinger.
Mindestens einmal wöchentlich fuhr ich mit Stange zusammen nach Ostberlin. Dazu hatte uns Vogel freie Durchfahrt durch die Sektorengrenze vermittelt. Danach hockten wir in Vogels Büro zusammen und besprachen unsere Fälle. Die Stimmung war locker. Bald waren wir auf du und du. Das war übrigens für Ostverhältnisse nichts Besonderes. Die Leute, die ich kennenlernte, waren alle viel freier miteinander, als ich dies aus dem Westen gewohnt war. Es war mehr Wärme in den persönlichen Beziehungen, so als ob sich die Menschen unter einer Decke gegenüber den Unbilden des offiziellen Lebens zusammenkuscheln wollten.

Johannes Zinke
Um mich mit dem Prälaten Zinke bekannt zu machen, traf ich mich mit Vogel im Ratskeller. Um 15 Uhr waren wir bei Zinke im Hedwig-Krankenhaus angemeldet. Dort saß der Prälat an einem gewaltigen Schreibtisch mit vielem Papier. Er sah so aus, wie man sich einen Prälaten vorstellt. Massig, mit wehendem weißen Haar und mit rotem Gesicht. Aber schon seine Stimme ließ aufmerken. Tief und sonor klang es mir entgegen: »Ich freue mich, mein lieber Freund, Sie kennenzulernen, noch dazu in einer so guten Sache. Ich kenne Ihren Präses, der ist die Säule der evangelischen Kirche.«
Dabei musterte er mich etwas misstrauisch. Wie ich später erfuhr, hatte er kürzlich mit einem evangelischen Pastor Ärger gehabt, weil der zu unvorsichtig gewesen war. Als Vogel darauf hinwies, dass ich Jurist sei, schien er etwas beruhigt. Er traute den Theologen in geschäftlichen Sachen wohl nicht so sehr. Dann kam er auf einen katholischen Pfarrer zu sprechen, der beim Schmuggeln erwischt worden war und nun in Haft saß.
Zinke forderte mich auf, ihn einmal in der Ahornstraße in Charlottenburg zu besuchen. Dort hatte er sein Westberliner Büro. Offenbar war er nicht ganz sicher, ob er im Osten nicht abgehört würde. Für Telefongespräche empfahl er Latein. Das könnten die Genossen mit Sicherheit nicht. Glücklicherweise hatten sowohl Vogel als auch ich das humanistische Gymnasium besucht und konnten so seine Brocken verstehen, zum Beispiel wenn er fragte: »Est avis in oriente parte?« (Ist der Vogel im östlichen Teil?). Auch sprach er nur von den Advocati.
Da ich eine Liste mit evangelischen Gefangenen übergeben hatte, ging es in der Sache darum, ob wir einige katholische Namen hinzufügen konnten. Dazu war ich selbstverständlich gern bereit. In Erinnerung an mein Gespräch mit Präses Scharf fragte ich, ob sich die katholische Kirche auch an etwaigen Gegenleistungen beteiligen würde. Zinke sagte zu, und einer guten Zusammenarbeitstand nun nichts mehr im Wege.
In den nächsten Wochen fuhr ich regelmäßig zu Vogel. Über unsere Liste erfuhr ich zunächst nichts. Wir hatten aber unabhängig davon eine Menge Mandanten, aus Ost und West oder mit Angehörigen im Westen. Die Post wurde kontrolliert, und die Telefonleitungen waren gekappt. So diente ich als Bote, übernahm aber auch einige Mandate im eigenen Namen. Es gab viele Ost-Leute mit Westproblemen, zum Beispiel familiärer Art. Angehörige wurden gesucht. Unterhaltsansprüche waren geltend zu machen. Es gab sogar Häftlinge in Moabit, die aus dem Osten stammten und die ich besuchen konnte. Vogel war darüber sehr froh. Das Schicksal seiner Mandanten ließ ihn nicht kalt, sondern bewegte ihn.
Eines Abends im April, als wir wieder einmal zusammentrafen, war ein vierter Mann da. Er stellte sich als Heinz Krügeler vor. Er sei der Verbindungsmann zum Zentralkomitee (ZK) und sei auch für den Ost-West-Handel zuständig. In Wirklichkeit hieß der Mann Heinz Volpert. Er war der Beauftragte des MfS und bis zu seinem Tod 1986 unmittelbar dem Minister Erich Mielke unterstellt.
Er wollte uns einmal kennenlernen. Das wäre wichtig für die Entscheidung über unsere Wünsche. Heinz war in unserem Alter, eher etwas jünger, also damals Mitte dreißig. Er sprach leicht sächsisch oder genauer gesagt, thüringisch. Er stammte aus Weimar und war ein waschechtes Mitglied der Arbeiterklasse. Aber er war sehr gepflegt gekleidet und sprach recht gebildet. Sein Lieblingswort war »exakt.« Wir nannten ihn Heinz.
Eines Tages kam Heinz gleich zur Sache. Im ZK sei grundsätzlich entschieden worden, dass unsere Gefangenen entlassen werden könnten. Arnold sei allerdings nicht dabei. Hier müsste erst das Verfahren abgewartet werden. Aber wenn wir uns über die anderen einigen würden, stiegen natürlich auch seine Chancen.
Mir passte das nicht, denn Frau Arnold hatte dringend um Hilfe gebeten. Aber ehe ich noch etwas sagen konnte, fuhr Heinz fort. Auch die DDR hätte natürlich Wünsche. Wenn sie uns entgegenkäme, müssten wir auch ihr helfen. Das sei ja wohl gerecht. Schließlich hätten die Gefangenen auch Schaden angerichtet. Einige wollten sogar ausreisen, obwohl ihnen die DDR eine gute Ausbildung finanziert hätte. Kurz und gut, er erwartete eine wirtschaftliche Gegenleistung.
Was er denn haben wollte, fragte ich zurück. Ja, sie brauchten gerade Kalisalz, für die Landwirtschaft Ich wusste zwar nicht, wie ich das beschaffen sollte, aber ich dachte mir, das kann doch nicht so schwer sein. Also versprach ich, es zu versuchen. Wieviel es denn sein sollte, fragte ich. Drei Waggons, antwortete Heinz. Das sei für 15 Häftlinge – um die ging es – angemessen. Ich sollte mich mal bei unseren Wirtschaftsfachleuten erkundigen. Ahnungslos, wie ich war, gab ich mich zunächst zufrieden, und wir vertagten uns auf die nächste Woche.
Am nächsten Morgen fragte ich meinen Präses. Von Kali verstand er natürlich auch nichts. Aber er erinnerte sich an seine Verhandlungen mit der Wirtschaftskommission der DDR und an den Mann, der sie später weitergeführt hatte, an Ludwig Geißel, Direktor der Wirtschaftsabteilung des Diakonischen Werkes in Stuttgart. Er rief gleich dort an und avisierte mich zu einem Gespräch. Ich flog also nach Stuttgart. Es war Mai 1964.

Ludwig Geißel
Geißel empfing mich skeptisch. Er führte Verhandlungen in allen Kontinenten, wohin das Diakonische Werk Entwicklungs- und Kata-stro-phen-hilfe leistete. Das DDR-Geschäft war nur ein Ausschnitt aus seiner Verantwortung. Er hatte schon verschiedene Funktionäre kommen und gehen sehen. Er wusste also, wo die Genossen der Schuh drückte. Sie brauchten Devisen, und sie brauchten hochentwickelte Industriewaren. Es gab ständig irgendwo Löcher und Engpässe, die gestopft werden mussten. Der Kali-Wunsch wunderte ihn also nicht. Diese Ware konnte beschafft und geliefert werden.
Aber wie ich mir das dächte, Menschen gegen Waren, auf Deutsch Menschenhandel. Das wäre doch unmoralisch. Das könne gerade die Kirche nicht machen. Er verstünde nicht, dass ein Theologe wie Präses Scharf auf so eine Idee kommen könne.
Ich antwortete ihm, Scharf sei der Ansicht, in der DDR seien die politischen Gefangenen die Nächsten, die am meisten Hilfe benötigten. Diesen wolle er helfen. Die Mittel dafür würde er beschaffen.
Geißel ließ sich überzeugen. Er werde das erwünschte Kali beschaffen Dazu müsse er aber eine Genehmigung des Bundeswirtschaftsministe-riums beantragen. Das erforderliche Geld müsse allerdings Scharf als Ratsvorsitzender bereitstellen. Es handle sich ja um eine Aufgabe der EKD.
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