Wann er letztlich zum ersten Mal mit dem Antaloidenvolk in Kontakt gekommen war, habe ich letztlich nie aus ihm herausbekommen können. Offenbar war es auf einer Exkursion gewesen, die er noch mit seinem Vater damals unternommen hatte, im zarten Alter von 10 Jahren. Doch immer wenn ich versuchte, das Gespräch auf diese Exkursion zu bringen, verdunkelten sich seine Augen und er wurde einsilbig und verschlossen. Ich fand letztlich nur heraus, dass sein Vater wohl während dieser Exkursion plötzlich verstorben war. Die Ärzte hatten einen natürlichen Tod festgestellt und weiter drangen meine Nachforschungen aus Respekt gegenüber meinem Freund nicht.
Wie auch immer: Oberflächlich mochte der Professor also wieder freundlicher und normaler geworden sein, aber im Inneren... im Inneren war er ein absolutes seelisches Wrack. Das wurde immer deutlicher. Er versuchte mich zwar zu täuschen, indem er vorgab, gesundet zu sein, aber immer wieder brach diese dünne Maske von geistiger Stabilität. Er war einfach ein Mann mit einer Obsession. Und plötzlich fing er irgendwann an von Dingen zu reden, die selbst ich nicht von ihm erwartet hätte.
»Mädchen«, so begann er, »Wir sollten eine Reise unternehmen«.
»Eine Reise wohin?«, fragte ich naiv. Und dann erwähnte er zum ersten Mal seinen unaussprechlichen Wunsch.
»Wir reisen in die tosenden Wellen der Ströme!« Ein zynisches Lächeln grub sich in sein Gesicht und seine Augen glänzten fanatisch. Ich werde nie diesen Gesichtsausdruck vergessen, als er das unaussprechliche Aussprach. Ich lehnte es natürlich sofort vehement ab, versuchte ihn davon zu überzeugen, dass er sich mit aller Sicherheit in den Dimensionen des Geistes verirren würde, lange bevor er die Ströme erreichen könnte, aber er gab nicht auf.
In den darauffolgenden Monaten redete ich ihm die absurde Idee immer wieder aus, doch jedes Mal wenn ich meinte, endlich Fortschritte mit ihm gemacht zu haben, begann er frustrierenderweise einfach wieder von vorne. Und das Beunruhigendste war dabei für mich, dass er mich unbedingt mitnehmen wollte. Ja, er war geradezu besessen davon, diese Reise zu Zweit anzutreten. Irgendwann hatte ich schließlich genug von ihm.
Mein Neid und meine Wut sorgten dafür, dass zwischen uns viele böse Wörter fielen. Mein Neid kam aus meiner Vergangenheit: Während er immer als Wunderkind hoch gehandelt wurde, bemuttert wurde, bewundert wurde, so musste ich in meiner ganzen Kindheit und Jugend dafür kämpfen, nicht als dumm zu gelten. Meine Ausdrucksweise konnte nicht im Ansatz mit meinen Gedankengängen mithalten.
Meine Wut war hingegen eine mitleidende Wut. Ich fand es nämlich erbärmlich, dass er praktisch nichts aus sich gemacht hatte. Ich WOLLTE, dass er erfolgreich war! Er war ein absolutes Genie, Himmel nochmal! Wieso nutzte er diesen Geist nicht einfach für nützliche Dinge? Wieso manövrierte er sich selbst in die dunkelste und entlegenste Ecke des Lebens und wieso wollte er mich unbedingt dorthin mitziehen?
Ich habe nie davon geträumt, viel zu erreichen. Alles was ich jemals wollte, war, dass irgendjemand sagte, ich wäre gut in dem, was ich tue. Er auf der anderen Seite hätte alles haben könne, doch lehnte er es einfach ab.
Um umzukehren war es dabei mittlerweile für beide von uns zu spät. Mein Ruf war immerhin so ruiniert wie seiner und für die anderen waren wir ohnehin nichts mehr als verschrobene und verschwiegene Personen, mit denen man besser nichts zu tun haben wollte, wenn man nach einer Karriere strebte.
Doch ehrlicherweise muss ich trotz all dessen gestehen: Auch mein Interesse an dieser ganzen Sache war längst noch nicht erloschen. Ich steckte ebenfalls schon viel zu tief drinnen in dieser ganzen Materie und als ich schließlich bemerkte, dass ich begonnen hatte, an Demenz zu leiden, war es wohl endgültig vorbei für mich. 9
Denn mehr und mehr begann sich daraufhin meine Realität aufzulösen. Irgendwann war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich diese ganzen Gespräche mit ihm schon einmal geführt hatte, oder nicht. Meine ganze Gewissheit und mein ganzes Ich brachen Stück für Stück weg. Zudem befiel mich neben meiner Demenz eine ausgeprägte Paranoia. Ich konnte mir ja nie sicher sein, ob der Professor meine geistigen Schwächen nicht doch ausnutzte.
Misstrauisch und aggressiv wurde ich also ihm gegenüber. Wenn ich zu seiner Tür hinausging, wusste ich ja schon nicht mehr, über was wir drinnen überhaupt gesprochen hatten. Nur vage Gefühle blieben übrig, denn die konnte man nicht vergessen. Und diese Gefühle beunruhigten mich sehr. Es waren dunkle Gefühle in mir, versteckt vor meinem bewussten Verstand. Sie weigerten sich dabei hartnäckig, von mir entschlüsselt zu werden.
Dennoch besuchte ich ihn jeden einzelnen Tag. Warum? Weil er und ich es so wollten. Wir wollten es so, verstehen Sie? Wir hatten ja keine Ahnung.
1 Kapitel 3: Die Grenze zum Wahnsinn
Das ist also der Anfang und die Mitte dieser ganzen verhängnisvollen Geschichte, die mich und meinen Freund seit jenen unheilvollen Tag in der Morbruchstädter Universität untrennbar aneinandergekettet hatte. Ich will nun auch ihr tragisches Ende erzählen.
Nachdem ich also zitternd in meiner Arbeitsstube dieses Wort »Grenze« gelesen und mich lange genug damit quält hatte, zog ich mich an und bereitete mich innerlich darauf vor, meinen Freund noch einmal zu besuchen. Doch dieses Mal wollte ich es endlich beenden. Ich würde ihm sagen, dass ich aus dieser verfluchten Stadt wegziehen werde und anderswo ein neues Leben beginnen wollte. Ein Leben ohne ihn. Ich packte meine Ausgehsachen und verließ mein verbarrikadiertes Haus.
Es herrschte bereits Zwielicht in den abendlichen Straßen, eine dicke Nebelsuppe waberte durch die Stadt und man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Keine Menschenseele war unterwegs. Die Menschen fürchteten sich. Klammheimlich wussten sie nämlich, dass ein Ereignis bevorstand, das ihre Welt auf immer zerstören konnte. Deshalb zogen sie es also vor, in den warm beheizten Häusern zu bleiben und die Fenstervorhänge zuzuziehen. Niemand wollte schließlich den Weltuntergang mitansehen. Niemand außer ich. Frierend stapfte ich durch die einsamen, heruntergekommenen Gassen. Ich fühlte mich dort eigenartigerweise sehr wohl. Das Gefühl des Unbeobachtetseins strömte warm durch meinen Körper und ich genoss die Abwesenheit jeglichen Lebens.
Immerhin würde schon bald auch diese Stadt vom Wahnsinn verschlungen in Trümmern liegen, 10doch in diesem einem Moment genoss ich einfach die eigenartige Magie dieses Ortes und ich bewunderte dessen verfallene Schönheit. Ja, Ich beneide auch heute noch nicht die Menschen, die die verlassene Eleganz eines solchen Ortes nicht wahrnehmen können.
In diesem Moment spürte ich also, dass mir dieser Spaziergang sehr gut tat und wollte deshalb beinahe den Wunsch, meinen Freund zu besuchen, wieder verwerfen, da stand ich wie vom Teufel geleitet bereits direkt vor seinem Haus.
Es war einschüchternd und überragend. Mit seinen dunkel verglasten Fenstern und dem hohen, schwarz lackierten Portaleingang lauerte es wie ein gut getarntes Raubtier in der Straße, bereit sein Opfer zu fressen. Ein unbedarfter Spaziergänger würde an diesem Haus vorbei schlendern, ohne etwas zu bemerken, doch ich wusste ganz genau, was vor sich ging, denn ich war weder Spaziergänger noch unbedarft. Dieses Haus war eine religiöse Versammlungsstätte für eine archaische Religion. Eine Religion die den Weltuntergang anbetete. Entfernt hörte ich dabei die belehrende Stimme meines alten Meisters: »Nur der Weltuntergang kann zur Entstehung einer neuen Welt führen. Einer besseren Welt! Unserer Welt!«
Ich versuchte eingebildete Stimmen sowie ahnungsvolle Gefühle abzuschütteln und nahm all meinen Mut zusammen. Die Türklingel erklang schrill und gleich darauf konnte ich hastige Fusstapser hinter der schwarz lackierten Türe hören.
Читать дальше