Das Wissen um die Antaloiden, 3die Beschaffenheit der äußeren Dimensionen und schließlich die Existenz der alles umgebenden Grenze, dies alles empfing ich von ihm und noch viel mehr. Ich wurde schnell eine gelehrige Schülerin.
Doch das faszinierendste von all dem, was er mir erzählte, waren immer noch die Ströme selbst: eine unvorstellbare Welt jenseits der unseren, in die man hinübertreten und sogar leben konnte. Es war eine Welt, deren bizarre Schönheit sich mir in der absolut kleinsten Splittersekunde, in der ich sie gesehen hatte, für alle Ewigkeiten in die Augen brannte. Noch heute sehe ich sie ständig vor mir. Eingeprägt auf meiner Netzhaut, bin ich unfähig sie auch nur für eine Sekunde abzuschütteln. Ist das ein Teil meiner Verurteilung? Doch wie auch immer, mir ist bereits nicht mehr zu helfen, also kehre ich wieder zurück.
Der Professor hatte mir beileibe nicht grundlos sein Wissen weitergegeben, sondern er machte mir schließlich das Angebot, eine Forschungsgruppe mit ihm zu gründen, um genau jene vorherig genannten Phänomene zu erforschen. Er glaubte dabei, dass es irgendeine Verbindung zwischen fremden Dimensionen und dem menschlichen Geist gäbe.
Begierig darauf mehr zu erfahren, nahm ich Schwachkopf an. Zwei Monate darauf wurde ich von der Universität verwiesen. 4Man nahm mir die Verbindung zu dem Professor übel und als ich nicht, wie mir nahe gelegt wurde, alle Kontakte zu ihm abbrach, ließ man mich einfach auf der Straße stehen.
In der Tat war der Professor keine beliebte Person in Forscherkreisen. Zu Obskur waren seine wissenschaftlichen Interessen, zu Revolutionär seine Theorien. In der Forschungsgruppe verblieben von anfangs 13 Leuten also nur noch er und ich. Wir arbeiteten dabei umso besessener an der Validierung unserer völlig abstrusen Theorien. Aus irgendeinem Grund wussten wir schlichtweg, dass wir Recht hatten.
Das Mythen umwobene Antaloidenvolk konnte in eine andere Dimension reisen, indem es einen bestimmten psychischen Prozess durchlief. Wir nannten diesen Prozess den » Grenzbruch «. Und nur wenn dieser Prozess abgeschlossen war, konnte der Körper in diese Dimension nachfolgen. Das Problem jedoch war, dass der Geist vor dem Körper gehen musste, wie beschrieben in der « Abhandlung über die fünf Dimensionen des Geistes «. 5Ich werde wohl eine Kopie dieses Buches meinen Unterlagen und Memoiren hinzufügen. Nur so kann man auch nur ansatzweise unsere komplexe wissenschaftliche Arbeit nachvollziehen, die, wie ich hier feststellen will, weit vom bloßen Okkultismus entfernt war. Dieses Buch also war der Grundstein unserer oberflächlich irrationalen Forschungen.
Wir arbeiteten also unermüdlich, selbst als der große Krieg langsam seine Klauen über die Landkarte Europas ausstreckte, hielten wir nicht ein in unserer Arbeit. Wir waren wie in einem Fiebertraum gefangen. Wir schliefen nicht, wir aßen nicht, Gott alleine weiß, was uns am Leben gehalten hatte.
Und selbst als die Schlachtfelder immer näher rückten und irgendwann sogar Bomben auf uns herab fielen, gaben wir nicht auf. Viele Menschen starben, als die Landschaften und Städte unter den Hämmern des Krieges zu abnormalen Gestalten deformierten und die Hölle selbst aus den Wolken und Böden hervorzubrechen schien. Aber das bekümmerte uns nicht, wir gruben einfach weiter, suchten nach alten Artefakten eines längst zurecht vergessenen Volkes.
So herrschte um uns herum einstmals eine besonders grausame, langwierige Schlacht 6, in der wir beinahe von Bomben, Trümmern, Splittern und sogar fliegenden Gliedmaßen erschlagen worden wären.
»Halte das Blut von der Ausgrabungsstätte fern! Oder willst du etwa, dass der Altar tatsächlich sein Opfer bekommt?!«, herrschte er mich an.
Doch es war einfach unmöglich! Ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran, wie ich trotzdem verzweifelt versuchte, irgendwie auch nur behelfsmäßig Kanäle in den Boden zu graben, worin das ganze Blut dann ablaufen sollte, aber wie gesagt es es war zwecklos. Unermüdlich wie ein Sturzbach nach heftigem Regenschauer floss es um uns herum. Wir standen letztlich hüfttief und geschlagen in einem abstoßenden Meer aus Blut und Schlamm. Wütend starrte ich irgendwann einfach nur noch in den tobenden Himmel und regte meine Fäuste im Fieberwahn gegen Gott empor. Mir grinste aber nur die bleiche Sonne hämisch entgegen.
Als sich jedoch der Regen aus Schlamm, Splittern und menschlichen Extremitäten etwas zu lichten begonnen hatte, konnte ich es endlich zum ersten mal mit eigenen Augen sehen: Das Sonnenportal! 7Irgendetwas hatte in mir in diesem Moment einen Schalter umgelegt, der einen unbeschreiblichen psychischen Prozess in Gang setzte.
Erschrocken konnte ich plötzlich das Sterben um mich herum fühlen. Der Soldat, der mit zerrissener Kehle im Sterben da lag und an seinem eigenen Blut qualvoll erstickte. Das Giftgas, das die Lungen der unglücklichen Opfer schier verflüssigte. Die Kriegs-Krüppel, die plötzlich um den Krater herum standen und mit gepeinigten, lichtlosen Augen auf uns herab starrten. In andächtiger Todessehnsucht sprangen sie nach einigen Momenten, ohne einen Laut über die Lippen zu bringen, in das Meer des endlosen Blutes, das wir zuvor erschaffen hatten.
Irgendetwas in mir schien aber in diesem ganzen brodelnden Chaos noch menschlich geblieben zu sein, denn ich erinnere mich, wie ich sie verzweifelt angeschrien hatte, sie sollen doch verschwinden und sich nicht das Leben nehmen. Aber ich konnte letztlich keinen von ihnen retten.
Der Krater füllte sich also mit immer mehr Blut. Mittlerweile ist mir auch klar, dass wir in diesem Moment am Rande eines alten und unheiligen Opferaltars gestanden waren. Ein Opferaltar, den man niemals zufrieden stellen konnte. Unermüdlich soff er unser Blut und fraß menschliche Gedärme. Als er dann schließlich zur Hälfte voll gewesen war, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben Nebelriesen. 8Sie packten die schreienden Menschen und warfen sie zur Sonne, wo sie verbrannten. Ich verstand den Prozess, der dahinter stand damals nicht, doch heute... weiß ich es. Ich weiß alles. Gott helfe mir. Ich werde dieses Wissen niemals teilen. Denn manche Dinge bleiben am besten vergessen.
Nach diesem Ereignis waren wir gebrochen, von Krankheit geplagt und körperlich ausgelaugt. Doch während ich - zumindest glaubte ich das – halbwegs wieder geistig gesund wurde, steigerte er sich immer mehr in seine Besessenheit hinein.
Als ich beinahe jeden Tag in die Kirche ging, um Buße zu tun für meine grausamen und wahnsinnigen Taten, baute er sich selber einen kleinen Opferaltar, auf dem er Nachbarskatzen und weiß Gott was noch opferte. Ich versuchte ihn davon abzubringen, zerstörte seine Sammlung von Antaloiden-Gegenständen, aber letztlich schien ihn das alles nur noch fanatischer zu machen. Ich musste damals der Polizei einiges an Geld zustecken und zum Glück war das Interesse an verschwundenen Haustieren ohnehin gering.
Trotz seiner Sturheit versuchte ich ihm also weiterhin zu helfen, schleifte ihn in die Kirche, unternahm mit ihm Exkursionen ohne jeden inhaltlichen Bezug zu den Antaloiden. Ablenkung, dachte ich, war das was er am meisten brauchte. Ich musste einfach dafür sorgen, dass wir diese grausamen Ereignisse endlich vergessen konnten. Und nach einiger Zeit schien er tatsächlich auf dem Weg der Besserung zu sein. Ja, er blühte sogar wieder einigermaßen auf. Irgendwann konnte er sogar wieder normal, logisch stringent ohne wie besessen vor sich hin zu faseln, sprechen. In diesen Momenten war ich sehr froh.
Immerhin war dieser Mann mein Mentor gewesen und ich war zudem der Einzige, der ihn je richtig verstehen hatte können. Man kann es sich vielleicht heute gar nicht mehr vorstellen, aber dieser Mann hätte einstmals eine glänzende Karriere vor sich gehabt. Als ich noch nicht mal lesen und schreiben konnte, verfasste er schon Abhandlungen über den menschlichen Geist und psychotische Energien. Geboren aus gutem Hause war er ein begnadetes und begütertes Wunderkind wie aus dem Bilderbuch. Aber schon frühzeitig hatte er sich für die dunklen Dinge im menschlichen Geist zu interessieren begonnen. Zwischenmenschlich war er dabei nie erfolgreich, was ihn mit mir verband. Dieser Kontrast zwischen wissenschaftlicher Anerkennung und menschlicher Ablehnung verstärkte jedoch in fataler Weiße nur seine düstereren Neigungen.
Читать дальше