Es gibt zwei Zwecke, denen das Halten der Vasenatmung dient. Der erste ist, daß wir den Windfluß innerhalb des rechten und linken Kanals stoppen und dadurch grobe begriffliche Geisteszustände beruhigen. Wie zuvor erwähnt, müssen die Winde innerhalb des Zentralkanals fließen, wenn sie im rechten und linken Kanal zu fließen aufhören.
Was den ersten Zweck betrifft, sollte beachtet werden, daß es möglich ist, die Winde durch bloße Konzentration auf das Kurz-AH in den Zentralkanal zu bringen, ohne überhaupt Vasenatmung auszuführen. Dies ist die friedlichste aller Techniken, um die Winde in den Zentralkanal zu bringen, und es ist ausgezeichnet, wenn wir dies tun können. Mit dieser Methode besteht keine Gefahr, die Winde zu stören. Außerdem ist diese Methode kraftvoller als andere, um eine Realisation von Klarem Licht zu gewinnen. Andererseits können wir die Winde sehr viel schneller in den Zentralkanal bringen, wenn wir die Methode der Vasenatmung benützen.
Zuvor wurde darauf hingewiesen, daß die Technik der Vasenatmung entweder friedvoll oder kraftvoll ausgeführt werden kann. Die hier beschriebene Technik, wobei die Muskeln der unteren Tore des Körpers sanft zusammengezogen werden, ist die empfohlene friedvolle Methode. Die kraftvollere Methode beinhaltet, die Muskeln der Arme und Beine anzuspannen und dadurch die unteren Winde zu zwingen, sich schneller zu sammeln. Es heißt, daß ein Meditierender oder eine Meditierende, wenn er oder sie mit der friedvollen Methode keinen Erfolg hat, für eine Weile eine kraftvollere Methode praktizieren und dann zur sanfteren Technik zurückkehren sollte.
Es besteht eine Ähnlichkeit zwischen den verschiedenen Methoden, die Winde in den Zentralkanal zu bringen, und den verschiedenen Arten des Sterbens. Die friedvolle Methode, wobei wir uns einfach nur auf das Kurz-AH konzentrieren, ist dem Vorgang ähnlich, der während eines natürlichen Todes abläuft, wenn die Winde sich langsam und nach und nach im Zentralkanal auflösen und deshalb eine bessere Möglichkeit bieten, das Klare Licht zu erkennen und darüber zu meditieren. Die kraftvollste Methode ist ähnlich dem Vorgang während eines plötzlichen, gewaltsamen Todes. Die Winde lösen sich sehr schnell auf, und in der Folge dieser hastigen Bewegung ist es schwieriger, sich der Erscheinung des Klaren Lichtes gewahr zu sein. Deshalb ist die beste Art zu meditieren, zuerst die Vasenatmung zu benützen, um Erfahrung in der Konzentration des Geistes auf das Kurz-AH im Nabelkanalrad zu gewinnen, und dann, wenn einmal Vertrautheit erreicht worden ist, mit der friedvolleren Methode der Verwendung bloßer Konzentration fortzufahren.
Der zweite Zweck, dem das Halten der Vasenatmung dient, hat mit dem nach unten entleerenden Wind zu tun, der sich im Zentralkanal unmittelbar unter dem Nabelkanalrad befindet. Indem wir die oberen und unteren Winde des Körpers wie oben beschrieben in das Kurz-AH auflösen, sind wir in der Lage zu bewirken, daß sich der nach unten entleerende Wind nach oben bewegt. Wenn dies geschieht, wird sich das Innere Feuer entfachen und lodern.
Auch der Geschlechtsverkehr führt dazu, daß sich der nach unten entleerende Wind durch die Vereinigung der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane nach oben bewegt, aber diese Bewegung findet nicht im Zentralkanal statt und deshalb ist das Ergebnis nur ein momentanes Entfachen und Lodern des gewöhnlichen Inneren Feuers. Aufgrund dieses Entfachens und Loderns schmelzen die Tropfen im unteren Teil des Körpers und fließen abwärts, was in einer kurzen Erfahrung von Glückseligkeit resultiert, die aber nur anhält, bis die Tropfen durch das Geschlechtsorgan ausgeschieden werden oder, im Fall der Frau, sich in der Gebärmutter sammeln. Indem jedoch die Vasenatmung gehalten wird und man sich auf das Innere Feuer konzentriert, kann man bewirken, daß sich der nach unten entleerende Wind im Zentralkanal nach oben bewegt. Das wird dazu führen, daß das Innere Feuer entfacht wird und lodert und die Tropfen schmelzen - alles innerhalb des Zentralkanals. Wer nicht Geheimes Mantra praktiziert, kann dieses Resultat nicht erreichen. Es ist vielleicht möglich, das gewöhnliche Innere Feuer zu entfachen und zu bewirken, daß es durch den Geschlechtsverkehr lodert, es ist aber nicht möglich zu bewirken, daß die Tropfen innerhalb des Zentralkanals schmelzen oder daß sie vom Scheitelkanalrad nach unten fließen. Da gewöhnlicher Geschlechtsverkehr nicht verursachen kann, daß die Winde in den Zentralkanal eintreten oder daß das Innere Feuer sich entfacht und darin lodert, kann er der Praxis der Vollendungsstufe nie von Nutzen sein.
So wie gewöhnlicher Geschlechtsverkehr dazu führen kann, daß das Innere Feuer sich auf die beschriebene Art und Weise entfacht und lodert, so können auch gewisse gewöhnliche Meditationen die Hitze des Inneren Feuers innerhalb des Körpers erzeugen. Die Erzeugung solcher Hitze dient jedoch keinem anderen Zweck, als den Körper warm zu halten; es fehlt ihr die Kraft, Realisationen hervorzubringen. Wenn es unser einziges Ziel ist, den Körper zu wärmen, müssen wir nicht meditieren; es ist einfacher, uns in eine Decke zu wickeln oder die Heizung einzuschalten.
Um Inneres Feuer rein zu praktizieren, sollten wir danach streben, es innerhalb des Zentralkanals zu entfachen, denn es außerhalb des Zentralkanals zu tun, wird nur von der Hitze ablenken, die innerhalb erzeugt werden könnte. In der Folge werden die Tropfen nicht innerhalb des Zentralkanals schmelzen und fließen, und die Meditation wird keinerlei Realisationen der Vollendungsstufe hervorbringen. Wenn die Mahamudra-Meditation nicht erfolgreich ist, wird es nicht möglich sein, das Klare Licht wahrzunehmen. Wenn sich andererseits das Innere Feuer im Zentralkanal entfacht und lodert, werden die Winde dort eintreten, verweilen und sich auflösen. Dann gibt es nichts, was uns von der Erzeugung Spontaner Großer Glückseligkeit abhalten kann, dem Hauptzweck der Meditation des Inneren Feuers.
Um das Innere Feuer mittels der Vasenatmung zu entfachen, visualisieren wir, daß als Ergebnis des Auflösens der unteren und oberen Winde, der nach unten entleerende Wind nach oben fließt und gegen das Kurz-AH bläst. Während, wie beachtet werden sollte, das Aufsteigen der unteren Winde des Körpers durch den Zentralkanal und die Bildung der unteren Halbkugel, die das Kurz-AH umgibt, vorher bloß visualisiert wurde, fließt jetzt der nach unten entleerende Wind tatsächlich nach oben und bläst gegen den Buchstaben. So wie rotglühende Kohlen heißer werden, wenn sie mit einem Blasebalg angeblasen werden, so brennt das Kurz-AH jetzt intensiver, während es vom nach unten entleerenden Wind angeweht wird. Wir stellen uns vor, daß der Buchstabe so heiß wird, daß er alles verbrennen könnte. Wir visualisieren, daß er heißer und heißer und immer heller glühend wird, bis die feine obere Spitze des Nadas des Kurz-AH für einen Augenblick aufflammt und die Flammen dann wieder verschwinden. Das Nada fährt fort auf diese Weise aufzuflammen und abzuklingen, während es von der Aufwärtsbewegung des nach unten entleerenden Windes angeweht wird, so wie heiße Kohlen aufflammen und dann wieder nur glühen, während sie von einem Blasebalg angefacht werden. Das ist die fünfte Stufe der Meditation, die «das Entfachen des Inneren Feuers» heißt. Wir sollten fortfahren, uns in dieser Praxis zu schulen, bis wir eine tatsächliche Erfahrung dieser Entfachung haben.
Gemäß der Tradition Je Tsongkhapas sollte jede Stufe der Meditation des Inneren Feuers methodisch und gründlich praktiziert werden, bis sich ein Erfolg einstellt. Wenn wir die Meditation des Inneren Feuers zu schnell praktizieren, mögen wir fähig sein, Körperwärme zu erzeugen, aber dies wird sich eigentlich als Hindernis erweisen, die wahren Früchte des Inneren Feuers zu erhalten. Deshalb sollten wir alle Erwartungen aufgeben und langsam und gründlich praktizieren; dann werden wir erfolgreich sein. Viele große Meditierende der Vergangenheit nahmen sich vier, fünf oder sechs Jahre Zeit, um die Meditation des Inneren Feuers zu vervollkommnen. Wir können sogar ein ganzes Leben damit verbringen, diesen Yoga zu praktizieren. Wie Longdöl Lama sagte:
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