1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Schließlich trat das Wesen aus dem Dickicht des Waldes einen Schritt nach vorn. Jetzt konnte man es besser betrachten. Die Gestalt erweckte einen altmodischen Eindruck. Ein Windstoß fegte den dunklen Umhang zur Seite, ein Anzug mit einem eleganten Gehrock kam zum Vorschein. Eine Böe wehte langes, schwarzes Haar vor ein hageres Gesicht. Der Windhauch wandelte zum starken Wind, die Umgebung zunehmend kälter. Ein verrotteter Geruch schwängerte die Luft.
Erneut starrte das Wesen forschend auf den Ort. Ein boshaftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Es war jetzt an der Zeit, zu erkunden, ob sich in dem Ort etwas geändert hatte, beschloss er.
Freies Feld lag vor dem dunklen Wesen. Was es sah, gefiel ihm, ins- besondere die Schafherde, die dort graste. Bellende Hunde, die die Schar hüteten, sprangen um die Schafe. Genüsslich fuhr seine Zunge über die Lippen.
Die Gestalt wandte sich den Tieren zu und hob die Hand, wobei sie Zeige- und Mittelfinger gegeneinanderdrückte. Hinterhältig grinsend zielte sie damit auf die Herde, den Mund lautlos bewegend.
Die Schafe blökten unruhig, stoben verängstigt auseinander. Die Hirtenhunde bellten lauter, versuchten, ihre Schützlinge zusammenzuhalten. Als die Hunde den Fremden entdeckten, sträubten sich sofort ihre Nackenhaare. Mit drohend aufgerichteten Ruten knurrten sie, die Zähne gefletscht, den Unbekannten an. Einer von ihnen lief zu seinem Herrchen, dem Schäfer, der auf einem Hocker vor dem Campingwagen saß und genüsslich Pfeife schmauchte.
Irritiert betrachtete der Hirte die unruhige Herde. Abwesend tätschelte er den Kopf des Deutschen Schäferhundes und kraulte ihm zwischen den Ohren. Das Tier drängte sich, verhalten fiepend, an dessen Oberschenkel. Urplötzlich jaulte es auf, bellte heftig in Richtung der Gestalt. Der Hund schüttelte sich und auch sein Herrchen zog fröstelnd die Schultern hoch.
Der Mann wandte sich ab, ging den Weg zur erwählten Stadt weiter. Immer noch lag dieses wissende Lächeln auf seinem Gesicht.
Mary
Mary Falcon ergriff den Korb, der stets einsatzbereit seinen Platz neben der Eingangstür hatte. Ihr Nachnahme Falcon, Chayton in der Sprache ihres Volkes, bedeutete Falke. Mary gehört zum Stamm der Abnakis, die wiederum zum Volk der Algonkin gehörten. Die Wigwams der Abnakis standen einst oben auf dem Hügel, dort, wo jetzt das Hotel stand.
Die Indianer fertigten ihre Zelte aus jungen Bäumen der Birke und ihren Ästen. Die Wände ihrer Tipis bedeckten sie mit Matten aus Birkenrinde. Die Kanus, mit denen sie auf Fischfang gingen, bestanden ebenfalls aus Birkenrinde, dem vielseitigen Material. Weil die Abnakis das Holz des Birkenbaumes vielfältig nutzten, bezeichneten ihre Feinde sie abfällig als " Adirondacks ", was soviel heißt wie: " Sie essen Bäum e". Allerdings ist das längst Geschichte. Mary wusste das alles nur noch aus den Erzählungen des Großvaters. Ein großer Teil der Ureinwohner kam bei einer Grippeepidemie ums Leben. Manche zogen weiter nach Norden, andere blieben, so wie Mary und ihre Vorfahren, die eine Farm bewirtschafteten. Heute steht da, wo einst die Wigwams standen, das Hotel. Von dem Indianerdorf ist nichts geblieben, außer den Jahrzehnte alten Totempfählen. Warum sie noch standen, nicht längst verwittert waren, wusste niemand zu erklären.
Beim Abschließen der Tür wanderte Marys Blick hinauf zum Türrahmen, blieb am Pentagramm, das dem Schutz des Hauses und der Bewohner diente, hängen. Erschrocken stellte sie fest, dass es ziemlich verblasst aussah. Sie musste es umgehend auffrischen, gleich wenn sie zurück war!
Doch erst musste sie in den Wald, Kräuter sammeln, das war dringlicher. Manche Pflanzen sollten in den frühen Morgenstunden gepflückt werden, nur dann, würden sie ihre Wirkung entfalten. An der Gartenpforte überlegte sie kurz, ging zurück ins Haus, um einen zweiten Korb zu holen. Mit energiegeladenen Schritten strebte sie zur Hauptstraße des Ortes, die zum Wald führte. Bereits von Weitem erkannte sie die unverkennbare Gestalt von George Wainwright.
"Guten Morgen, Bürgermeister", begrüßte sie den stattlichen Mann: "Auch schon so zeitig auf den Beinen."
Der zeigte schwenkend eine weiße Papiertüte.
"Morgen meine Liebe, Donuts für die Familie. Das Frühstück ist fast die einzige Zeit, die wir gemeinsam verbringen. Da will ich sie verwöhnen!"
Die mittelgroße Mary legte den Kopf in den Nacken, um zu Georg Wainwright aufzusehen:
"Recht haben Sie! Aber bald wird es überall entspannter. Dann haben sie sicher mehr Zeit für ihre Lieben."
"Ja Mary, es dauert nicht mehr lange und sie verlassen wieder haufenweise den Ort. Am liebsten würde ich auch irgendwohin, wo es warm ist und so."
"Ach geht ihre Familie dieses Jahr ebenfalls auf Reisen?"
"Leider schaffte ich es noch nicht sie zu überreden. Ohne mich wollen sie nicht weg. Da kann ich mir den Mund fusselig reden."
Mary nickte verständnisvoll:
"Das kenne ich. Mein Enkelsohn und seine Frau drängeln auch ständig. Sagen, dass es für mich besser wäre, jetzt wegzufahren, in warme Gefilde und so."
Nun stimmte George Wainwright verstehend zu:
"Jaja, ist alles nicht so einfach. Als Bürgermeister muss ich die Stellung halten, kann nicht so fortfahren. Aber meine Familie..."
Den letzten Satz ließ er unvollendet.
Mary schaute zum Himmel, musterte die Sonne:
"Nun muss ich mich aber sputen, sonst wird es zu spät für die Kräuter... Sie verstehen?"
"Man sieht sich!"
Grüßend, noch immer leicht abwesend, hob der Bürgermeister zum Abschied die Hand.
Ein weiteres Kräuterbündel wanderte zu den übrigen in Marys Korb. Erschöpft von der anstrengenden Bückerei strich sie die aus ihrem Zopf gelöste silberne Strähne aus dem Gesicht. Verwundert registriere sie, wie dunkel es im Wald geworden war. Prüfend schaute sie nach oben, verdutzt über den grauen Himmel. Als sie das Haus verließ, war dieser strahlend blau und nirgends eine Wolke zu sehen.
Eine aufkommende Brise ließ Mary fröstelnd die Schultern hochziehen. Auffallend kühl war es zudem geworden! Sie knöpfte die dicke, blau-melierte Wolljacke zu, die sie zu einem Jeansrock trug. Der leichte Luftstrom entwickelte sich zu einem kräftigen Wind. Deutlich hörbar raschelte das Laub. Heftig pfiffen die Böen in das Astwerk der Bäume, das sich widerstrebend im Luftzug wiegte, als wenn es diesem entkommen wollte. Tosen und Brausen erfüllte den Wald. Dann herrschte schlagartig Stille. Der Boden war übersät mit gefallenen Blättern. Die Kälte und die Dämmerung nahmen zu, Marys Unbehagen ebenfalls.
"Im Wald ist es immer dunkler. Vielleicht fängt es gleich an, zu regnen", versuchte sie die aufkommende Beklommenheit zu verjagen.
Gierig zog sie die Luft durch ihre bebenden Nasenflügel. Der Duft des Waldes sollte sie entspannen. Indessen roch er heute nicht wie sonst, nicht nach Wald, Erde und Moos. Ein Duft von Fäulnis durchwogte die Luft, überdeckte die ihr vertrauten und geliebten Gerüche. Ein anderer, ihr unbekannter Duft überlagerte alle Aromen. Sie schnüffelte erneut, um ihn zu identifizieren. Ihr Unterbewusstsein meldete ihr, dass sie keine Vögel hörte.
Mary lauschte angestrengt, vernahm weder zwitschernde Vögel, noch das Knacken oder Rascheln von irgendwelchen kleinen Tieren, die sich auf dem Boden oder im Blätterwerk bewegten. Eine absonderliche Atmosphäre beherrschte den Wald, der wie losgelöst von der Zeit wirkte. Die Natur schien auf irgendetwas zu warten.
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