Die Regierung sorgte für die Ausbildung, garantierte jedem einen Job und stellte nur ein paar einfache Regeln auf. Wenn man sich nicht, wie Tino, mit dem Regime anlegte, wurde man in Ruhe gelassen. 'Jeder für jeden – alle für die Kolonie' war der Grundsatz, wie die Kolonie funktionierte. Genau gleich wie bei den Musketieren vor langer Zeit.
Nur Soziopaten schimpften gegen Regulierungen. Typen wie Tino und Becker, die nicht müde wurden, bedeutungslose Details aufzubauschen und wilde 'Fakten' darum herum zu basteln. Wären sie wenigstens Alkoholiker, wäre ihr Verhalten therapierbar gewesen. Mit ihren Verschwörungstheorien machten sich die beiden ihr Leben selber schwer.
Steve hingeben genoss das Leben in vollen Zügen und redete sich ein, zu Hause nur nicht auszuziehen, weil er Eve nicht enttäuschen wollte. Helen wollte ihn da herausreißen, sprach von Verantwortungsgefühl und pochte auf einen Zeitvertrag. Das klang nach Entwurzelung. Zeitverträge waren Handschellen.
"Wieder durchgefallen?", frotzelte Tino.
Steve winkte ab. Er klaubte den Umschlag aus der Schublade und bestätigte den Empfang. Die Drohne stieg höher und sauste weg. Steve blickte ihr nach. Gegen die fleckig-gelblich schimmernde Kuppel, welche die Kolonie vor der lebensgefährlichen Umwelt des Mondes schützte, bildeten ihre Umrisse einen scharfen Kontrast.
"Und?"
"Was und?"
"Durchgefallen?"
Steve seufzte. Er hatte Tino schon tausendmal erklärt, dass er sein Bauingenieurdiplom in der Tasche hatte und jetzt in Professor Beckers Institut arbeitete.
"Wahrscheinlich nicht", antwortete er gedankenverloren und drehte den Umschlag unschlüssig in den Händen. Papier! Reine Ressourcenverschwendung! Typisch Professor, der nicht nur geistig in der Welt vor der Großen Säuberung zu Hause war, sondern sich auch so verhielt.
"Was will er jetzt schon wieder", murmelte Steve und drückte einen Kaffee. Er legte den Umschlag neben sich auf den Tisch und schlürfte aus der dampfenden Tasse.
"Willst du nicht wissen, was drinsteht?"
Tino setzte sich Steve gegenüber und knabberte einen Keks. Steve beobachtete angeekelt, wie Krümel an der feuchten Oberlippe kleben blieben. Anblicke, die anwiderten, erscheinen immer wie durch ein Mikroskop vergrößert und liefen in Zeitlupe ab.
"Warum wurde das nicht übers Telespeak geschickt? So wichtig kann es doch nicht sein, wenn es für dich ist."
Tino grinste breit. Steve hoffte, dass seine Mutter einen Tinoersatz heimschleppte, der einen richtigen Job hatte und nicht am Frühstückstisch rumnervte.
"Ist von meinem Professor. Der schickt nie was über Telespeak."
"Der weiß warum!", nickte Tino wissend. Ein Krümel löste sich, klackte auf den Tisch und fiel zu Boden.
"Dein Professor ist clever. Der weiß genau, dass uns die Väter an der Nase herumführen und die fetten Brocken für sich abzweigen."
"Blödsinn."
"Meinst du? Junge, mach die Augen auf! Seit Jahren ist alles gleich, seit Generationen wurde keine neue Kuppel gebaut. Nicht mal Nummer 10 haben sie repariert."
"Der Meteor der damals in Zehn reinkrachte, hat alles zerstört. Da gibt's nichts mehr zu reparieren."
"Du glaubst das Märchen mit dem Meteor? Werd endlich erwachsen. Die ÜKo hat die Kuppel platt gemacht, um den Technikeraufstand nieder zu schlagen."
"Ja, ja. Technikeraufstand. Es war ein Meteor, der vor 50 Jahren einschlug. Hast du die Videos nie gesehen?"
Tino seufzte. Keiner wollte die Wahrheit erkennen. Er wusste aus vertrauenswürdigen Quellen, dass damals eine Revolte der Techniker rücksichtslos niedergeschlagen wurde. Seit damals war die Kolonie nicht mehr in der Lage, alle Systeme sauber zu warten.
Sandgestrahlte Kolonisten wie Steve waren blind für solche Tatsachen. Sie verschlossen ihre Augen und glaubten wie Kleinkinder, dass da nichts ist, wo man nichts sieht. Für diese Ameisen legte das Regime die Duftspur, an der entlang sie blind durchs Leben stolperten. Wenn sich die Väter räusperten, warfen sich die Ameisen ehrfürchtig in den Mondstaub nieder.
"Wo war ich?"
Steve zuckte desinteressiert mit den Schultern.
"Ich hab's wieder: der Laden stagniert. Ich glaube, die Väter verheimlichen uns, wie schlecht es wirklich um die Kolonie steht. Darum haben sie damals auch die künstliche Schwerkraft in den Kuppeln abgestellt."
"Was für ein Quatsch! Die sind nicht abgestellt, sondern reduziert. Außerdem weiß jeder, dass es für den Körper gesünder ist, nur der Mond- und nicht der Erdschwere ausgesetzt zu sein. Das sieht man alleine schon daran, dass wir grösser sind als Erdlinge jemals waren."
"Falsches Väter-Palaver. Wenn es so gesund wäre, wie die da oben behaupten, warum gibt es trotzdem noch 0,5 und 1G-Zonen? He? Doch irgendwann werden sie über ihre eigenen Lügen stolpern. Du wirst es noch erleben. Dein Professor voll den Durchblick."
Steve winkte ab. Becker war ein weltfremder Phantast, der nicht müde wurde, die Altzeit zu verehren. Eine Vergangenheit, die Milliarden Menschen das Leben kostete und nicht mehr von Belang war.
Was nutzte es zu wissen, dass vor dem Großen Rumms ein gewisser Jesus mit einem gewissen Obama die Magna Charta geschrieben hatte, Tut-Ench-Amun daraufhin mit den Tempelrittern Napoleon besiegte, weil sich dieser anschickte, die Francophonie flächendeckend einzuführen. Das lag alles weit zurück und die Kolonisten taten gut daran, den Verrücktheiten der Altzeit keine Beachtung zu schenken. Die Kolonie entging dem Konflikt, der vor zweihundertfünfzig Jahren die Erde überzog, den größten Teil der Menschheit dahinraffte und die technischen Errungenschaften zerstörte. Zurück blieben Ruinen, verpestete Luft und Elend. Und ein paar Millionen Menschen, die sich heute noch bei jeder Gelegenheit die Köpfe einschlugen. Wenigstens war das mittlerweile solides Handwerk und wurde nicht mehr ferngesteuert.
Es war vorbei und diejenigen, welche das ganze Chaos in Gang setzten, waren genauso zu Staub zerfallen wie ihre Opfer. Die große Säuberung war nur noch eine flüchtige Erinnerung und Becker das bärtige Relikt davon, das irgendwie überdauert hatte.
"Wilde Theorien", seufzte Steve und drehte den Umschlag in seinen Fingern.
"Falsch. Nur weil du die Augen schließt, ist nicht alles in Ordnung. Ich sag's dir!", lachte Tino humorlos auf, "Ihr jungen Leute, du und deine Saufkollegen, merkt nicht einmal, dass ihr nur denkt und redet, was die Väter euch erlauben zu denken und zu reden. Aber echt jetzt!"
Tino schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
"Wer anders denkt, der bekommt sein Fett weg. Leute wie ich, die zu sagen wagen, was krumm läuft."
"Die Kolonie funktioniert nur, wenn alle mitziehen. Du lässt dir einen kranken Zahn ja auch ziehen, bevor er dich völlig lahmlegt."
"Du hast keine Ahnung", widersprach Tino heftig.
"Deine Artikel werden nicht veröffentlicht, weil sie Unsinn sind und die Leute beunruhigen, obwohl es keinen Grund dafür gibt."
"Quatsch. Die da oben haben nur Angst, dass ihre Schäfchen anfangen nachzudenken. Wer denkt, stellt Fragen. Das fürchten die Väter."
Steve wandte sich ab. Tino hatte keine Ahnung, wusste nicht Bescheid über den Professor. Wusste nicht, dass er einer seltsamen Sekte, die sich die Katholiken nannte, angehörte und daran glaubte, dass ihr Religionsstifter, der Jesus mit der Magna Charta, die Fähigkeit gehabt haben soll, Wasser in Wein zu verwandeln und anschließend darüber zu gehen. Märchen! Bei der Schwerkraft auf der Erde war es unmöglich, über Wasser oder Wein zu gehen.
Es war einfach so, dass Becker nie etwas über Telespeak tat. Steve vermutete, dass der Professor gar nicht wusste, wie Telespeak funktionierte.
Er riss den Umschlag auf. Papier roch widerlich! Der hohle Abgesang von getöteten Pflanzen. Er zog einen gefalteten Zettel aus dem Umschlag.
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