Er zwang sich zu klaren Gedanken. Es war sicher, dass die Zweifler und Waschweiber nicht klein beigeben würden, wenn er das verschollene Evangelium präsentierte. Menschen waren nach der Großen Säuberung nicht anders, nur weniger zahlreich. Auch in der Kirche positionierten sich selbstsüchtige Egoisten, die bereit waren, das große Ganze für ein paar zweitrangige, persönliche Vorteile zu opfern.
Er brauchte einen unabhängigen Zeugen. Eine Person, die ihn begleitete und der man nicht unterstellen konnte, dem höheren Klerus gefügig zu sein. Es musste ein Kolonist sein, denn Erdlinge selbst hielten Erdlinge für unglaubwürdig.
Er rieb sich am Kinn. Er würde Globe einweihen müssen, ob es ihm gefiel oder nicht. Globe musste überzeugt werden, ihn zur Erde zu begleiten und den unabhängigen Zeugen zu spielen. Und er musste für ihn eine Geschichte präparieren, die unverfänglich war. Globe war ein Plappermaul, der kein Geheimnis für sich behalten konnte. Doch wenn er es geschickt anstellte, wurde aus Globes Charakterzug ein Schutzwall, den die ÜKo nicht durchdringen konnte.
Aber das hatte Zeit. Zuerst musste die Botschaft für den Erzengel formuliert werden.
Steve rubbelte die Haare trocken. Er war zufrieden, weil das Wasser bis zum Schluss warm blieb. Er hasste es, die Seifenreste kalt abspülen zu müssen, was oft genug vorkam. Die Dusche nach dem Morgenlauf in der 0,5G-Schwerkraftzone war das Ritual, mit dem er den Tag startete. Er lief abseits der erlaubten Strecken, um niemanden zu begegnen. Konversation vor dem zweiten Kaffee grenzte an Okkultismus.
Die Umrisse im vom Dampf beschlagenen Spiegel zeichneten seinen schlanken, hochaufgeschossenen, kräftigen Körper ab. Steve entsprach dem Idealbild des Kolonisten: gute Ausbildung, gesund und er machte sich keine unnötigen Gedanken darüber, was er heute zur Weiterentwicklung der Kolonie beitragen konnte. Für laufende Verbesserungen war Helen, seine Freundin, zuständig. Ihre politische Energie reichte für sie beide.
"Was trödelst du rum?", rief Tino gereizt.
Tino war der aktuelle Zeit-Partner von Eve, seiner Mutter. Der Kerl war in Ordnung, solange er nicht in den hör-mal-junger-Mann-Modus verfiel.
"Was ist?"
"Da schwirrt eine Zustelldrohne vor der Tür."
"Wo ist das Problem?"
"Einschreiben! Für dich."
'Vermutlich Helen', ahnte Steve und verdrehte die Augen.
"Ich komme."
Helen entwickelte sich zu einer Belastung. Dass sie eine Drohne mit einer persönlichen Nachricht schickte, war hinterhältig und zeugte von verwerflichen Charakterzügen, die ihm in diesem Ausmaß bisher nicht bewusst gewesen waren. Er strich mit den Fingern die feuchten Haare in Form, schlüpfte in die Hose, steckte das Telespeak ein und zog ein rotes T-Shirt über den Kopf. Er spürte das Tasten des Telespeaks in seinem Gehirnimplantat und akzeptierte die Verbindung.
"Wurde auch Zeit", maulte Tino, "das Ding da draußen nervt."
"Eine Zustelldrohne macht dich nervös?", lachte Steve.
Tinos Stärke waren Verschwörungstheorien. In dieser Disziplin war er Großmeister und vermutete hinter jeder öffentlichen Dienstleistung einen Komplott der Väter. Vielleicht war das ein Muss für freischaffende Journalisten. Steve tippte jedoch darauf, dass in Tinos Kindheit einiges schiefgelaufen war oder dass falsche Ernährung und Bewegungsarmut schuld daran waren. Vielleicht war auch Saturn ungünstig gestanden, als Tino das Licht der Kolonie erblickte. Tino selber bezeichnete sich als Freigeist, der den Mumm aufbrachte, die Missstände unter den Kuppeln anzusprechen und die Inkompetenz der Regierung an den Pranger zu stellen. Immer, wenn einer seiner Artikel zurückwiesen wurde, tappte er in die selbst gebaute Verschwörungsfalle und behauptete, dass die Ablehnung von oben gesteuert war.
'Die da oben mögen es nicht, wenn einer die richtigen Fragen stellt, Junge.', rechtfertigte er sein Versagen. Steve vermutete, dass Tinos Tiraden nur Ablenkungsmanöver waren, weil er im Job versagte. Er würde sich einen Gefallen machen, einen anderen, einfachen Job zu suchen. Eine monotone Arbeit, die beruhigte und sein Karma in Ordnung brachte. Zum Beispiel die Mondoberfläche entstauben.
Es gab keine Regel der Väter gegen die er nicht opponierte. Erst vor zwei Tagen wetterte er gegen die Implantationspflicht.
"Die kontrollieren uns und wenn es ihnen nicht passt, knipsen sie dich mit dem Implantat ferngesteuert aus."
"Dann wundert es mich", spottete Steve, "dass sie deine Gehirnwindungen noch nicht gekocht haben. Du behauptest doch, dass du der Stachel in ihrem Fleisch bist, der sie daran erinnert, sich zu mäßigen. Aber", fuhr er mit einem Lächeln fort, "du könntest doch Recht haben, denn manchmal habe ich wirklich das Gefühl, von Hirntoten umgeben zu sein."
"Du nimmst das auf die zu leichte Schulter, junger Mann."
"Ich weiß nicht, warum du dich aufregst. Denn selbst wenn sie uns über die Implantate beobachten: es hilft offensichtlich dabei, den Laden hier in Schwung zu halten und zu verhindern, dass sich das Desaster von damals wiederholt."
Alle Videos, die jeder Kolonist seit seiner frühesten Kindheit an kannte, bewiesen, wieviel Glück die Kolonie hatte, nicht im Sog der Großen Säuberung untergegangen zu sein. Statt zu Jammern sollte Tino dankbar sein.
Wenn jemand in diesem Haus zu Klagen Anlass hatte, dann er, dachte Steve. Es war hart, die beiden vermutlich einzigen Vertreter der Kolonie zu kennen, die in der Arbeit der Väter etwas anderes als den Willen, der Kolonie selbstlos zu dienen, sahen. Vielleicht hatte Saturn nicht bei Tino, sondern bei ihm ungünstig gestanden.
"Ihr jungen Leute seid so was von naiv. Glaubst du wirklich, dass Drohnen nur Pakete zustellen? Die haben Zusatzaufgaben. Ich sag's dir. Geheime Aufträge. Diese Dinger sind auf unsere Schwachstellen konditioniert und füttern die Datenbanken der ÜKo. Das kannst du mir glauben."
"Vorgestern waren es noch die Implantate."
"Die auch. Implantate und Drohnen ergänzen sich."
Steve winkte ab und stopfte das Shirt in den Hosenbund. Tino war höchstens zehn Jahre älter und hätte leicht sein seltsam geratener, älterer Bruder sein können, den man besser zu Hause ließ, wenn man mit Freunden feierte. Doch seine Mutter hatte eine Vorliebe für jüngere Männer mit Ödipuskomplex und Hang zu geregelten Essenszeiten. Tino passte perfekt in ihr Beuteschema.
Wenn er richtig lag, erreichte Tino bald sein Verfalldatum. Vielleicht ahnte Tino was ihm blühte und war deshalb besonders unausstehlich. Steve blickte zur Drohne hoch. Ein rotes Signal verlangte nach einem Augenscan.
Es hieß, Augenscans machen blind. Er kannte zwar niemanden, dem das widerfahren war, doch das Gerücht geisterte seit Jahren im Telespeak herum. Genau die Art von verrückter Theorie, die von Tino stammen könnte. Allerdings, dachte Steve, musste was dran sein, wenn es im Telespeak war.
"Mach schon, Memme", murmelte Steve und trat mit aufgerissenen Augen vor. Ein bläuliches Licht waberte über seine Augen. Das Signal an der Frontseite der Drohne wechselte zu grün. Sie schwebte heran und fuhr die Schublade aus. Steve sah einen Briefumschlag und atmete erleichtert auf. Der musste vom Professor sein. Helen würde nie einen Brief auf Papier schreiben.
Helen: sie war lustig und anstrengend zugleich. Sie wollte in die Politik. Politik sei, dozierte sie, der kunstvolle Drahtseilakt zwischen Dienen und Lenken. Politik sei die Matrix, die der Formlosigkeit des freien Willens Halt und Perspektiven schaffe.
Eigentlich passten sie nicht zueinander. Steve langweilte sich, wenn sie über Politik redete. Die gewählten Politiker der Kolonie besaßen ohnehin nur beratende Funktion. Es waren die Väter, die den Kurs bestimmten und die ÜKo, die ihn durchsetzte. Väter amteten auf Lebenszeit und mussten ihre Amtsführung nicht danach ausrichten, wieder gewählt zu werden. Nur so, das lernte jeder in der Schule, waren auch unbequeme Maßnahmen, die den Erhalt der Kolonie sicherten, durchführbar.
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