Kiéran arbeitete weiter und verlor dabei das Gefühl für die Zeit. Die Klinge war fast perfekt in ihrer kühlen Glätte, als der Gestank von Fledermausdreck hereingeweht wurde – wo kam der denn her? Einen Wimpernschlag später wusste er es. „Is ´ne Nachricht gekommen für Euch“, verkündete die tiefe, ein wenig brüchige Stimme von Uram, dem Hüter der Fledermäuse.
Eine Nachricht für ihn? Es durchfuhr ihn wie ein Feuerstoß. Sofort legte er die Klinge weg und streckte die Hand aus. Uram legte ihm den Streifen hinein. Schmal war das Ding, aber seidenweich, ein teures Material. Unwillkürlich hob Kiéran es an die Nase, um daran zu riechen – in letzter Zeit ertappte er sich öfter dabei, dass er in der Gegend herumwitterte wie ein Jagdhund. Doch das Ding roch nur ein bisschen nach Pergament, nach Urams feuchten, schwitzigen Händen und nach Fledermaus.
„Steht ein Absender darauf?“ fragte Kiéran, doch anscheinend war Uram schon fortgegangen, er hörte nur noch seine Schritte, die sich entfernten.
Kiéran hätte schreien können vor Hilflosigkeit. Hier war sie endlich, eine Nachricht für ihn – nach zehn Tagen! – und er konnte sie nicht einmal lesen. Von wem sie wohl war? Von Marielle, von AoWesta, von Xen? Er hielt den Pergamentstreifen so fest in der Hand, dass er ihn beinahe zerdrückte. Schnell überlegte er, zu wem er gehen konnte. Rinalania war in einem der Nachbardörfer unterwegs, um neue Nahrungsmittel für den Tempel zu beschaffen und Bauernkinder mit Kräuterkaramellen zu beglücken. Dinesh war gerade in seiner Kammer und meditierte, um sein Ich zu läutern und sich tief in sich selbst zu versenken. Das war, wie Kiéran inzwischen wusste, für die Priester eine wichtige Übung, damit die Kraft des Oscurus in ihnen erhalten blieb. Ihn dabei zu stören, kam nicht in Frage. Kiéran überlegte weiter. Die Versuchung war groß, einfach den erstbesten Novizen zu fragen, aber was war, wenn vertrauliche Dinge in der Botschaft standen? Nein. Aber wie wäre es mit Yllsa, der Archivarin? Sie hatte schon einmal angeboten, ihm vorzulesen. Doch er war zu stolz gewesen, anzunehmen – obwohl er Bücher fast so heftig vermisste wie sein Schwert.
Kiéran stand auf und machte sich auf den Weg zum Archiv.
Wer hatte behauptet, dass Reisen Spaß macht? Sie selbst konnte es unmöglich gewesen sein. Seit vier Tagen regnete es schon. Wasser troff von Jerushas schwerem, vollgesogenem Umhang, von ihren Haaren, vom Zaumzeug. Der Matsch war an manchen Stellen der Straße so tief, dass die Stute bis zu den Fesseln darin versank und kaum vorwärts kam. Obwohl Jerusha versuchte, ihre Sachen nachts im Gasthaus zu trocknen, blieben sie feucht und klamm.
Schatten gab es keinen, und Grísho war inzwischen so schwach, dass sie sich nur noch nachts unterhalten konnten, wenn er durch die Dunkelheit etwas zu Kräften kam. Um ihn überhaupt mitnehmen zu können, hatte sie eine kleine Öllampe an Amaderas Sattelhorn befestigt, deren jämmerlicher Schein kaum eine Armlänge weit reichte; natürlich warf sie auch keinen besonders guten Schatten. Jerusha hatte schon fast für acht Ulder Lampenöl verbrennen müssen. Das hatte sie jetzt davon, dass sie seinen Bitten nachgegeben hatte, ihn mitreisen zu lassen.
Erstaunlicherweise kam sie trotzdem recht gut voran. Sie war schon an Timish und Elkaréd vorbei und auf dem besten Weg nach Quinlan. Dort stand die ehemalige Faunenmühle . Hoffentlich konnte sie bei Tante Rikiwa übernachten; Jerushas Vorrat an Münzen schmolz bedenklich zusammen.
Im Gasthaus Zum silbernen Krug nahm sie das billigste Zimmer, eine winzige Kammer im Keller direkt neben den nach Lauge riechenden Waschräumen. Das Abendessen würde aus feuchtem Malzbrot mit Käse bestehen, den Resten ihres Proviants. Wenigstens ein Gewürzbier wollte sie sich dazu gönnen. Nachdem sie ihr Gepäck im Zimmer verstaut hatte, stieg Jerusha die Treppen hinauf in die Gaststube. Immerhin, dort war es warm, im großen offenen Kamin loderte ein Feuer. Ein leiser Seufzer aus dem Nichts verriet ihr, dass Grísho die tanzenden Schatten zu schätzen wusste.
„Was darf´s sein?“ Der Wirt war ein dünner, langnasiger Mann, der eine abgewetzte Lederschürze trug. Als Jerusha ihn um ein Gewürzbier bat, sah er sie ganz seltsam an. Was glotzte er so? Gab es das Zeug hier in Benaris nicht? Wenn nicht, dann war das ein Skandal, es gab nichts Besseres, um sich aufzuwärmen.
„Verzeiht mir, aber wart Ihr schon mal in dieser Gegend?“ sagte der Wirt und hörte endlich auf, sie anzustarren.
„Ich war noch nie hier“, gab Jerusha zur Auskunft.
„Darf ich Euch dann nach Eurem Woher und Wohin fragen? Und verratet Ihr mir vielleicht, wie Euer Name lautet?“
Solche Auskünfte wurden in den Gasthäusern so gut wie immer erwartet, doch diesmal zögerte Jerusha dabei. Noch immer hatte der Mann einen eigenartigen Blick. Vielleicht hätte sie doch eine andere Unterkunft wählen sollen. „Mein Name ist Jerusha KiTenaro, ich reise gerade nach Quinlan. Das ist nur noch eine Tagesreise von hier, oder?“
Sie bekam keine Antwort. Ungläubig sah sie, dass dem Wirt die Röte in die Wangen stieg. „Habe ich´s mir doch gedacht“, murmelte er.
„Was gedacht?“
Ein kurzes Händeklatschen, dann noch eins, diesmal ungeduldiger. „Miko – eine Portion Braten, Brot und Butter, aber hurtig! Und den 34er Blauwein!“
Diesmal starrte Jerusha ihn ungläubig an. „Ich wollte doch gar keinen Wein.“
Ohne Umschweife zog der Wirt einen Stuhl heran und setzte sich. Was sollte das denn? Vorsichtig verschränkte Jerusha die Arme. Bis hierher und nicht weiter, Meister! Zum Glück schien der Wirt jetzt zu verstehen, dass er sie vielleicht etwas überrumpelt hatte. „Entschuldigt. Es war so lange kein KiTenaro mehr bei uns. Ich habe so lange darauf gewartet, dass ihr zurückkommt. Du musst die Tochter von Myrial sein, oder?“
„Ähm, ja – und wer seid Ihr?“
„Ich bin Dendelio OrTanek. Ich war ein dünner, schüchterner Küchenjunge in der Faunenmühle . Oh, das war ein prächtiger Hof, weit schöner als der Silberne Krug.“ Eine verächtliche Geste, die den Raum umspannte. „Und Eure Familie! Kala war immer so freundlich zu mir! Sie schickte mich zurück in die Schule und gab mir sogar noch Geld mit. Dabei wollte ich nichts weiter, als in der Küche helfen. Um bei Myrial zu sein.“ Verlegen wandte er den Blick ab. „Sie war hübsch wie eine Nymphe. Immer zu einem Streich aufgelegt, und doch oft sehr ernsthaft. Wie geht es ihr heute?“
Ihre Mutter? Immer zu einem Streich aufgelegt? Kein Zweifel, die Vergangenheit war eine völlig andere Welt. „Nicht sehr gut“, sagte Jerusha vorsichtig und fragte sich, wie viel sie diesem Fremden erzählen sollte. „Ich glaube, sie hat das mit ihrem Bruder und ihrer Zwillingsschwester nicht verkraftet.“ Von diesen Ereignissen wusste er wahrscheinlich. Kein Grund, auch noch den Mordversuch ins Spiel zu bringen, sonst saß sie noch bis Mitternacht hier und versuchte zu erklären, was eigentlich nicht zu erklären war.
„Das war schlimm. Ja. Ich glaube, ich werde sie mal besuchen.“
„Gute Idee“, sagte Jerusha. Dann sagte sie nichts mehr, denn gerade wurde ein Teller mit Braten und frisch gebackenem Brot vor ihr auf den Tisch gestellt. Es wäre eine schwere Sünde gewesen, das alles kalt werden zu lassen.
Erst als sie den letzten Rest Soße aufgewischt hatte, war sie wieder in der Stimmung zu reden. „Wem gehört die Faunenmühle heute eigentlich?“
„Ich weiß es nicht. Es ist eine Schande. Ihr werdet es ja selbst sehen.“
Mehr war ihm dazu nicht zu entlocken, und leider war er an dem Unglücksabend auch nicht im Gasthof gewesen und hatte den Fremden nicht miterlebt. Schade. Doch immerhin hatte er interessante Dinge über ihre Verwandtschaft zu erzählen. Zum Beispiel, dass ihr Großvater Fenvar – Earel und somit Clanherr, ein so mächtiger, wie die KiTenaros ihn lange nicht mehr gesehen hatten – Gast mehrerer Fürsten gewesen war. Dass es ihm gelungen war, einen Greifen zu zähmen. Oder dass ihr Cousin Galtael zehnmal hintereinander das berühmte Treffen der Bogenschützen in Parthus gewonnen hatte. Bis er sich weigerte, weiterhin teilzunehmen, weil die Veranstaltung ihn langweilte.
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