„Passt du für mich auf die Nachtlilien auf?“ flüsterte Jerusha ihr zu, als sie sich umarmten, und Liri nickte. „Natürlich. Jeder, der versucht, sie zu pflücken, bekommt einen Pfeil zwischen die Rippen!“
Liri wusste, wohin Jerusha ritt. Ohne ihre Mutter zu fragen hatte Jerusha entschieden, dass Liri ein Anrecht darauf hatte, die Wahrheit zu erfahren – schließlich betraf der Fluch auch sie. Jerusha war erstaunt gewesen, wie gefasst Liri reagiert hatte. Vielleicht hatte sie schon vor langer Zeit gespürt, dass etwas bei den KiTenaros nicht stimmte.
Auch Dario hatte sich vor dem Hof eingefunden, und nun schloss er Jerusha in die Arme. „Entschuldige, dass ich mich so unverzeihlich benommen habe“, flüsterte er ihr ins Ohr. „So etwas wird nie wieder vorkommen. Glaub mir, ich schäme mich!“
„Solltest du auch“, sagte Jerusha, und erst nach kurzem Zögern erwiderte sie seinen Kuss.
„Ich habe ein Abschiedsgeschenk für dich.“ Dario drückte ihr einen kleinen Gegenstand, der in graue Seide eingewickelt war, in die Hand. Jerusha packte ihn aus, doch ihr Lächeln schwankte und wäre beinahe erloschen, als sie sah, was es war. Ein kleiner Handspiegel mit graviertem Silberrahmen. Meinte er das ernst? Erst zwang er sie, eine ihrer Skulpturen zu verkaufen, und jetzt machte er ihr ein so teures Geschenk. Noch dazu einen Spiegel – sie war sicher, dass sie ihn die meiste Zeit in seiner Seidenhülle lassen würde. Und hatte er nicht daran gedacht, dass es unklug war, etwas Wertvolles mit auf eine solche Reise zu nehmen? Es würde ihr doch nur gestohlen werden.
„Bitte benutz ihn, ich glaube es wäre gut für dich“, sagte Dario, und seine sanften Augen ruhten auf ihr. „Und komm bitte möglichst bald zu mir zurück.“
„Ich versuch´s“, erwiderte Jerusha mit einer Spur von Kühle und hob die Hand zum Abschied. Dann stieg sie auf, schnalzte mit der Zunge und trieb Amadera an. Gehorsam setzte sich die Stute in Bewegung und trug sie aus Loreshom hinaus.
Eine wilde Mischung von Gefühlen durchflutete Jerusha. Eine so große Reise, ihre erste. Schon oft hatte es sie gelockt, ferne Fürstentümer zu besuchen und Länder, die hier im Dorf noch nie jemand gesehen hatte. Jetzt würde sie zumindest mal nach Benaris kommen.
Wie schade, dass der Anlass ein so scheußlicher ist, dachte Jerusha grimmig und ließ Amadera lostraben.
Kiéran stellte fest, dass er sich wieder bewegen konnte, doch er wusste selbst, dass eine Flucht jetzt keinerlei Sinn mehr machte.
„Wir wussten, dass Ihr da wart, und das hat die Zeremonie gestört“, fuhr die Stimme fort, auf einmal war sie schneidend scharf. „Ich musste sie abbrechen lassen.“
Kiéran erkannte die Stimme. Sie gehörte Dinesh, dem Ersten Priester des Tempels. Gerrity hatte schon einiges über ihn erzählt, und so konnte sich Kiéran vorstellen, wer ihm jetzt in der Dunkelheit gegenüber stand: ein breitschultriger Mann mit kantigem Gesicht und kurzem graubraunem Haar; einer seiner Vorderzähne war schräg abgebrochen.
Langsam erholte sich Kiéran, sein Kopf wurde wieder klar. Er atmete tief durch und richtete sich auf. „Das tut mir leid, und es war nicht meine Absicht.“
„Ich weiß.“ Dineshs Stimme wurde etwas sanfter. „Beinahe hättet ihr einen hohen Preis dafür bezahlt. Das Oscurus ist eine alte und mächtige Kraft. Wahrscheinlich hat euch die Robe gerettet; die eingestickten Worte formen einen Schutzzauber, und auch das Eulengras hat seine Bedeutung.“
Wider Willen war Kiéran fasziniert. „Ich habe etwas von dieser Kraft gespürt. Sie brachte die Dunkelheit zum Wogen.“ Hoffnung packte Kiéran, entriss ihm die Worte förmlich. „Einen Moment lang war es so, als könnte ich sehen. Hat das Oscurus die Macht, mir meine Augen zurückzugeben?“
„Ich warne Euch noch einmal, Kiéran SaJintar. Versucht nichts auf eigene Faust, überlasst es den Priestern, Euch zu helfen. Aus gutem Grund sind die meisten Besucher, die uns hier beehren, eher bemüht, den Zeremoniensaal zu meiden.“
Dinesh wich einer Antwort aus. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Hatte Kiéran es sich vielleicht nur eingebildet, diese Linien, diese Wogen aus Licht zu sehen? Nein, hatte er nicht. Doch auch die Gefahr, die er gespürt hatte, war anscheinend real gewesen.
„Das klingt, als sei es zu meinem eigenen Besten, die Zeremonie nicht mitzuerleben“, sagte Kiéran vorsichtig und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er hörte ein paar Gänge weiter Schritte; die Priester verließen den Saal. Doch durch diesen Gang kam niemand; vielleicht hatte Dinesh die anderen gebeten, sie unter vier Augen sprechen zu lassen.
„Gut möglich, Meister SaJintar. Zumindest im Moment noch.“
„Im Moment noch?“ echote Kiéran und zog die Augenbrauen hoch.
„Einige – und gar nicht mal wenige – der Verwundeten, die wir hier zur Gesundheit zurückführen, entscheiden sich anschließend, im Tempel zu bleiben. Sich zu Priestern weihen zu lassen und das Arithón zu tragen. Es ist möglich, dass das auch Euer Weg ist.“ Vielleicht spürte Dinesh seine Skepsis, denn er fügte hinzu: „Keine Sorge, Priester des Schwarzen Spiegels zu sein bedeutet nicht etwa, dass Keuschheit oder eine völlige Abkehr von der Welt von Euch erwartet würde. Nur die Bereitschaft, den Regeln des Tempels zu folgen und die Kräfte des Oscurus zu bewahren. Dafür habt Ihr Teil am Mysterium der Zweiten Ebene, aus dem auch die Götter ihre Kraft schöpfen.“
War das etwa der Preis der Genesung, wurde von ihm erwartet, dass er sich nach der Heilung voller Dankbarkeit dem Kult weihte? Kiéran hatte längst herausgefunden, dass nur etwa dreißig Menschen im Tempel lebten, obwohl er Platz für beinahe hundert bot. Viele Kammern standen leer. „Das wird nicht möglich sein – ich habe Fürst AoWesta Gefolgschaft geschworen“, wich Kiéran aus.
Dinesh schwieg, und Kiéran konnte sich denken, was ihm durch den Kopf ging. Eine Gefolgschaft lässt sich aufkündigen. Doch der Erste Priester sprach es nicht aus; vielleicht ahnte er, wie Kiéran dann reagiert hätte. Kiéran entschied sich, das Thema zu wechseln.
„Ich dachte bisher, dass nur die Eliscan und dergleichen Wesen über solche starken magischen Kräfte verfügen. Entstammt das Oscurus einer nichtmenschlichen Macht?“
„Nein!“ Es klang scharf wie ein Peitschenknall. „Die widerwärtigen Geschöpfe Khorats haben nichts, aber auch gar nichts, damit zu tun. Schon vor Jahrtausenden haben wir sie zurückgedrängt und daran gehindert, ganz Ouenda zu erobern. Damals war unser Orden noch weitaus stärker als jetzt.“
Dinesh setzte sich in Bewegung, er schritt durch die Gänge zurück zum Eingangsbereich. Kiéran versuchte der Richtung seiner Stimme zu folgen und neben ihm zu gehen. Doch das war nicht einfach, und er streifte den Arm des Ersten Priesters, wäre fast gegen ihn geprallt. Wie peinlich! Eilig tastete Kiéran wieder nach der Wand, um die Finger daran entlanggleiten zu lassen. Das half ihm, einen geraden Weg einzuhalten.
Kiéran fand es erstaunlich, dass seine Tat nach dem einen scharfen Verweis des Ersten Priesters anscheinend vergessen und vergeben war. Hätte ein Novo der Terak Denar sich etwas Vergleichbares zuschulden kommen lassen, wären ihm einige äußerst unangenehme Strafdienste sicher gewesen. Nun gut, wenn Dinesh die Sache auf sich beruhen lassen wollte, umso besser.
„Vielleicht habt ihr jetzt eine Ahnung davon bekommen, warum die Schwarzen Spiegel ein Mysterium sind, dem ich mich schon seit vielen Jahresläufen widme“, sagte Dinesh, er verlor kein Wort über Kiérans Schwierigkeiten, geradeaus zu gehen. „Sie zu erforschen ist meine Lebensaufgabe. In diesem Tempel ruhen Aufzeichnungen, die bis zum Anbeginn der Zeit zurückreichen. Ich versuche sie zu sichten und aus ihnen zu lernen.“
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