Es war ein ungewohntes Gefühl, die Schotterstraße durch die Ohren eines Pferdes hindurch zu sehen. Aber es war auch ein gutes Gefühl – ja, richtig gut. Heute Abend würde sie keine schmerzenden Füße haben. Als sie ins Tal hinab ritt, wurde es immer wärmer, und Jerusha band ihren Umhang hinter sich an den Sattel. Der Wind bauschte ihre vorne geschnürte Bluse mit den weiten Ärmeln. „Grísho“, sagte Jerusha und seufzte. „Ich glaube, es gefällt mir, unterwegs zu sein. Ist das eine Sünde?“
„Wahrscheinlich schon. Soweit ich mitbekommen habe, nennt ihr doch sowieso alles, was euch Spaß macht, Sünde.“
Freundlich, aber gelangweilt winkten die Grenzsoldaten Jerusha durch. Zwischen Kalamanca und Benaris herrschte schon seit vielen Jahresläufen Frieden. Kalamanca war ein ruhiges, bäuerliches Fürstentum, und die rundliche Muria UlPorím, die es regierte, hasste Streitigkeiten. Zwar galt das weitaus größere, reiche Benaris, dessen Kernland die weiten Flussebenen des Benar waren, als schwieriger Nachbar. Doch seit einiger Zeit wurden die AoWestas von den Kriegsherren Thorams in Atem gehalten, daher war ihr Interesse an eigenen Eroberungen derzeit gering.
Das Floß wurde an Seilen über den Fluss gezogen; vier kräftige Männer mit schweißglänzenden Oberkörpern sorgten dafür, dass sich die hölzerne Plattform ihren Weg zum anderen Ufer bahnte. Es war eine Menge los, und geduldig wartete Jerusha am Ufer, bis sie und Amadera dran waren mit der Überfahrt. Eine Stimme an ihrem Ohr flüsterte nervös: „Pardon, meine Liebe, aber gibt es nicht noch einen anderen Weg? Einen, der nicht über dieses nasse Zeug führt?“
„Warum?“ flüsterte Jerusha zurück. „Das Floß macht einen wunderbaren Schatten.“
„Aber das Wasser! Es schimmert!“
„Leider müssen wir den Benar irgendwann überqueren, und bis zur nächsten Brücke ist es eine halbe Tagesreise. Ich weiß ja, dass du dich sogar vor Pfützen gruselst, aber wenn du wirklich mit mir mitwillst ...“
Gríshos Stöhnen verlor sich im Wind, und an einem ganz leichten Flimmern der Luft sah Jerusha, dass er von ihrem Schatten in den eines Flößers sprang. Entweder war er jetzt eingeschnappt, oder dort war die Überfahrt weniger unangenehm. Sehr leicht fiel ihm der Sprung, wenn Schatten sich berührten; es ging zur Not aber auch, wenn bis zu einer Armlänge Abstand dazwischen lag. Weiter kam er nicht. Deshalb lebten viele Wesen seiner Art in Wäldern; dort flossen die Schatten ineinander und boten den ganzen Tag über Schutz.
In den langen Schatten des Sonnenuntergangs tummelte Grísho sich am liebsten, und in der Nacht sammelte er neue Kraft. Jerusha gönnte es ihm, begann aber selbst, nach einem Gasthaus Ausschau zu halten. Es wurde sehr bald dunkel, und noch war sie nicht bereit dazu, nachts zu reisen oder unter freiem Himmel zu übernachten. Schließlich fand sie eine kleine Schänke mit Zimmern über dem Gastraum. Es war hier wohnlicher als bei ihr daheim; die Laken rochen, als seien sie frisch gewaschen und in der Sonne getrocknet worden. Jerusha konnte sogar ohne Aufpreis ein Bad aushandeln – sie hatte das Gefühl, genauso intensiv nach Pferd zu riechen wie Amadera selbst. Sie hatte versucht, der Stute als Belohnung für die treuen Dienste einen Apfel zu spendieren, doch den hatte sie verschmäht. Dafür stellte sich heraus, dass sie ganz verrückt nach Nüssen war.
Bevor sie einschlief, wandten sich Jerushas Gedanken Dario zu. Sie hatte Sehnsucht erwartet und fand keine in sich. Wie seltsam , ging es ihr durch den Kopf. In Loreshom kommt es mir oft vor, als könne ich ohne ihn nicht leben. Vielleicht reicht ein Tag der Trennung noch nicht, um jemanden zu vermissen. Oder es liegt daran, dass er sich vor der Abreise schlimmer benommen hat als ein Utz.
Es war der Gedanke an Liri, der an ihrem Herzen zerrte. Daheim standen ihre Betten nebeneinander, und nie schliefen sie ein, ohne kurz den Arm auszustrecken, sich an der Hand zu nehmen und die Göttin Alicanda um schöne Träume zu bitten.
Hätte sie versucht, so etwas mit Grísho zu tun, wäre er wohl aus dem Lachen kaum herausgekommen. Er verstand immer noch nicht, warum Menschen fast die Hälfte eines Tageslaufs mit geschlossenen Augen herumlagen.
Vielleicht erkläre ich es ihm irgendwann nochmal, dachte Jerusha, während sie wegdämmerte.
Kiéran begann, die Zeit des nachmittäglichen Arbeitsdienstes in der Waffenkammer zu verbringen. Er schnitzte Griffe für frisch geschmiedete Messer, polierte Klingen und ölte Schwerter ein. Das waren alles Tätigkeiten, bei denen er mit den Händen sehen konnte, und die altvertrauten Gerüche nach Waffenöl, Leder und Metall waren ihm ein Trost. Am dritten Tag griff er peinlicherweise voll in die Klinge eines Dolches, doch zum Glück konnte Rinalania die Blutung schnell stoppen.
„Noch eine Kräuterkaramelle dazu, als kleinen Trost?“ fragte sie schelmisch, und Kiéran musste lachen. „Ja, warum nicht“, meinte er und steckte sich ihre Gabe gleich in den Mund. „Warum habt Ihr eigentlich immer welche dabei?“
„Ehrlich gesagt esse ich sie selber gerne, aber vor allem sind sie für die Kinder im Dorf“, erzählte Rinalania. „Die kriegen ja sonst nie was Süßes und müssen schon so schwer auf den Feldern arbeiten. Ich mache die Karamellen selbst, und wer weiß, vielleicht werden wir irgendwann auch dafür berühmt – und nicht nur für unsere Messer mit der blattförmigen Klinge.“
„Wäre jedenfalls schön“, meinte Kiéran und schlenderte mit seiner frisch verbundenen Hand in die Waffenkammer zurück. Wieder eine Verletzung. Diesmal erfinde ich aber keine Geschichte dazu , ging es ihm durch den Kopf, und er musste grinsen. Als Novo – jung und einsam, ein schüchterner Diplomatensohn unter lauter muskelbepackten Draufgängern – hatte er behauptet, die lange Narbe über seinen Rippen stamme von einem Schwertduell. In Wirklichkeit war er mit sechzehn auf einem frisch gewischten Boden ausgerutscht und auf die eigene Waffe gefallen, die er vergessen hatte wegzuräumen.
Am Nachmittag, als Kiéran mit verbundener Hand weiterarbeitete, besuchte ihn Gerrity wieder. „He, Roter Wolf! Ich verstehe nicht, warum du dir die Mühe machst und den halben Tag hier schuftest. Dabei könntest du doch auf der faulen Haut liegen und es dir gut gehen lassen.“
Kiéran drehte den Kopf seiner Stimme zu. „Meinst du das ernst? In meiner Kammer herumzuhocken ist ungefähr so spannend, wie einem Eiszapfen beim Schmelzen zuzuhören.“
„Also wenn das so ist, ich hätte da eine Beschäftigung für dich.“ Kiéran fragte sich, warum Gerrity auf einmal so verschmitzt klang. „Ich kenne die eine oder andere Kunst, die im Leben nützlich ist, wenn du weißt, was ich meine.“
„Ich kann´s mir fast denken.“ Kiéran war dankbar dafür, dass Gerrity es meistens schaffte, ihn aufzuheitern. „Aber will ich das wirklich lernen?“
„Glaub mir, du willst. Kannst die Jungs und Mädels aus deinem Regiment – oder wie auch immer man das nennt – damit überraschen. Zum Beispiel, indem du eine verschlossene Tür bezwingst.“
Kiéran versuchte sich den Gesichtsausdruck seines Kommandanten Xen TeRopus vorzustellen, wenn Kiéran vor seinen Augen mit Metallstäbchen an einem Türschloss herumfummelte. „Hm. Bei den Terak Denar ist die übliche Methode dafür eher ein gezielter Axthieb.“
„Ich weiß, ihr seid harte Burschen und so. Das heißt, du willst nicht?“
„Doch“, sagte Kiéran und war selbst überrascht über seine Antwort. „Wann fangen wir an?“
„Na also. Guter Junge. Wie wär´s mit der Zeit während der Meditationen und nach der Abendspeisung? Dann kannst du am Nachmittag weiter Zeit in deinem Metallwarenladen hier verbringen.“ Und dann war er auch schon weg, wahrscheinlich musste er zur Unterweisung der Novizen, die fand ungefähr zu dieser Zeit statt.
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