Lange blieb er dort sitzen, und dem Gong, der zur Abendspeisung rief, schenkte er keine Beachtung. Erst spät in der Nacht, lange nach der Zeremonie des Schwarzen Spiegels, als tiefe Stille herrschte im Tempel, stand er auf. Unfassbar, noch immer ließen sie seine Tür unverriegelt, selbst nach dem Zwischenfall bei der Zeremonie. Wieso vertrauten sie einem Roten Wolf wie ihm? Er wusste, dass nur draußen vor dem Tempel zwei bewaffnete Priester patrouillierten, drinnen war alles unbewacht. Lautlos verließ er seine Kammer und streifte durch die Gänge. Von Gerrity wusste er, dass sie zu dieser Zeit in Dunkelheit getaucht waren, niemand würde ihn sehen. Und er selbst brauchte kein Licht mehr.
Mit Vergnügen hätte er es jetzt mit einem Dutzend Soldaten aus Thoram aufgenommen. In den letzten Tagen hatte er in seiner Kammer begonnen, seinen Körper mit Übungen zu kräftigen, und nun fühlte er sich fast wieder so geschmeidig und kraftvoll an wie zuvor. Pflege! Ich – Pflege! Ist ja auch wahnsinnig anstrengend, mir ab und zu vorzulesen. Das hätte sie wohl gerade noch geschafft.
Niemand war hier, außer ihm selbst. Und ein paar Wesen, die zu seinen Füßen durch den nächtlichen Tempel huschten und hin und wieder ein Piepsen ausstießen, fast zu hoch für menschliche Ohren. Kiéran tastete sich vor zur Waffenkammer – sie war nicht abgeschlossen – und beschaffte sich ein paar Wurfsterne. Dann stand er bewegungslos in einem der Säle und wartete, bis er das Trappeln winziger Pfoten hörte. Mit aller Kraft schleuderte er den Stern in diese Richtung und wartete auf das schrille Fiepen eines verletzten Nagers. Doch es gab nur ein hartes Klenk , als der Stern von der Wand abprallte, und Kiéran hörte, wie die Ratte sich hastig davonmachte. Es dauerte eine Weile, bis er den Wurfstern wiederfand.
Die ganze Nacht lang jagte er, und traf jedes Mal daneben.
Ja, es war schlimm.
Jerusha wickelte ihren endlich getrockneten Umhang enger um sich und betrachtete das, was von der Faunenmühle übrig war. Das zweistöckige Hauptgebäude mit seinen vielen kleinen Giebeln musste einmal prachtvoll gewesen sein, doch nun war das Dach eingesackt und an vielen Stellen bröckelte der Putz, so dass das nackte Mauerwerk sichtbar war. Sämtliche Glasscheiben waren verschwunden, und Jerusha vermutete, dass die Dörfler sie mitgenommen hatten; Glas war teuer, und viele Leute hatten nur gewachstes Papier vor ihren Fenstern, um den Winterwind abzuhalten.
„Hat deine Mutter nicht gesagt, dass jemand die Faunenmühle erworben hat?“ Das raue Flüstern Gríshos.
„Doch, hat sie. Aber genügend Menschen haben mitbekommen, was den KiTenaros widerfahren ist. Danach haben sie den Ort des Unglücks wahrscheinlich gemieden, und das Gasthaus musste schließen.“
„Viel Geld hat deine Familie scheinbar nicht dafür bekommen – sonst hättet Ihr, mit Verlaub gesagt, eine schönere Heimstatt in Kalamanca kaufen können.“
Jerusha seufzte. „Wie wahr.“
Würgekraut überwucherte die ganze linke Seite des Gebäudes und hüllte es in einen grünen Mantel; noch ein oder zwei Jahresläufe, dann war hier nur noch ein grüner Berg zu sehen, und vielleicht war das der freundlichere Anblick.
Hier war es also geschehen. Hier hatte der Fluch ihre Familie getroffen. Jerusha versuchte, das, was ihre Großmutter beschrieben hatte, in sich lebendig werden zu lassen. Und einen Moment lang sah sie den Hof hell erleuchtet und prächtig vor sich, bereit für das Clantreffen; vor dem Eingang war ein lebhaftes Kommen und Gehen von gut gekleideten Gästen, während ihre noch gesattelten Reitpferde in den Innenhof geführt wurden. Doch jedes Mal, wenn Jerusha versuchte, den eigenartigen Fremden in dieses Bild einzufügen, scheiterte sie. Nur die verschwommene Vorstellung einer Gestalt, die von einer Kapuze verhüllt die Stufen hinaufschritt, gelang ihr. Sie wusste einfach noch zu wenig über ihn. Hoffentlich konnte Rikiwa ihr mehr erzählen.
Um das ganze Haus herum wuchs hohes, stacheliges Flir. Jerusha band ihr Pferd vor dem Gebäude an – die dafür vorgesehenen Eisenringe in der Mauer waren noch vorhanden –, dann bahnte sie sich zu Fuß den Weg durch das Unkraut zu den Dienstgebäuden und Ställen. Hinter dem Haupthaus lag ein großzügiger Innenhof, doch auch die Ställe waren in schrecklichem Zustand und sahen ebenso wie das Hauptgebäude aus, als würden sie jeden Moment einstürzen. Also kein Erkundungsgang durch die Innenräume.
Die Flirsamen krallten sich an ihre Kleidung, und Jerusha fluchte. Es würde eine höllische Arbeit werden, das Zeug wieder abzukriegen.
Ihre Großmutter hatte ihr genau beschrieben, wo der Stein stand, auf dem die seltsame Inschrift aufgetaucht war. Jerusha band Amadera wieder los und führte sie den Pfad entlang zum Bach, der einmal die Mühle angetrieben hatte, bevor sie zum Gasthaus umgebaut worden war. Sie musste nicht lange am Ufer entlanggehen, um den Felsen zu finden. Es war ein unregelmäßig geformter Granitblock, der hüfthoch am Ufer aufragte, grün-gelblich gefleckt an den Stellen, wo Moose und Flechten wuchsen. Jerusha sah das eigenartige Symbol sofort. Amadera senkte den Kopf, begann das saftiggrüne Gras abzurupfen und Jerusha überließ sie sich selbst. Mit dem Bogen über der Schulter hockte Jerusha sich vor den Felsen und begann mit den bloßen Fingern, den Bewuchs abzukratzen. Es dauerte nicht lange, das verwitterte Symbol freizulegen. Lange betrachtete sie das Zeichen, das so viele Sommer alt war. Es bestand aus einem halben Kreis, in den von der rechten Seite ein eigenartiger Buchstabe hineinragte – es sah ein bisschen aus wie ein schräges Z, an das sich ein geschwungenes S anschloss.
Jerusha ließ die Fingerspitzen über das Symbol wandern. „Was meinst du, Grísho, könnte der Fremde das gemacht haben?“
„Welche andere Möglichkeit gibt es? Das Zeichen war am nächsten Tag da, hat sie erzählt.“
„Ich verstehe nur nicht, wie er es angestellt hat. Er wird ja kaum Eisen und Schlägel dabei gehabt haben. Und mir erscheint es sehr seltsam, dass er sich die Zeit dazu genommen haben soll.“ Der Block bestand aus Granit, einem Stein für die Ewigkeit, der einem Bildhauer stolzen Widerstand leistete.
„Vielleicht hat er es vorher gemacht, um Zeugnis davon abzulegen, dass er hier gewesen ist“, wisperte der Schatten, der sie begleitete.
Jerusha runzelte die Stirn. „Oder er hat das Zeichen auf magische Art entstehen lassen.“
Vielleicht war der, der den Fluch gesprochen hatte, tatsächlich ein Gott, und dies hier ist sein Zeichen, dachte sie erschöpft. Sie kannte das Symbol nicht, und das, obwohl Terémio sie viele Götterzeichen gelehrt hatte – fast einen halben Jahreslauf lang hatte sie während ihrer Lehrzeit tagtäglich irgendwelche Inschriften meißeln müssen.
Gerade als sie sich herumdrehen wollte, kreischte Grísho plötzlich auf, und erschrocken warf sich Jerusha alles andere als elegant hinter den Granitblock. Große weißgraue Schwingen strichen über sie hinweg, und eine Klaue zerfetzte den Stoff an ihrem Arm. Wütend riss sich Jerusha ihren Eschenbogen von der Schulter. Wie von selbst legten ihre Finger einen Pfeil ein, zog ihr rechter Arm kraftvoll die Sehne nach hinten. Der Pfeil schwirrte davon und traf sein Ziel. Der riesige Vogel über ihr kreischte auf. Na also, geht doch , dachte Jerusha mit einem Anflug von Stolz und ließ gleich den nächsten Pfeil folgen.
Von irgendwoher waren noch zwei weitere Waldkondore aufgetaucht, und sie griffen aus verschiedenen Richtungen an. Jerusha duckte sich hinter den Stein; fast ohne zu zielen schickte sie einen weiteren Pfeil nach oben. Da sie ihren Armschutz nicht trug, schnalzte die Bogensehne schmerzhaft gegen ihren Unterarm, und diesmal ging ihr Pfeil daneben. Was daran lag, dass Jerusha erschrocken ihrer Stute nachblickte, die gerade in Panik davongaloppierte. Einen Moment später war nur noch das Trommeln ihrer Hufe zu hören.
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