„Ich hoffe, du gesundest rechtzeitig zu meiner Krönung, Neffe“, sagte Aláes mit besorgtem Blick.
Wie entsetzlich gut er heucheln kann . Silmar nickte schweigend – wenn er sprach, würde er alles nur noch schlimmer machen.
Sein Onkel beugte sich zu ihm herab und hauchte ihm, noch immer lächelnd, ins Ohr: „Du denkst nicht daran, mir weiterhin zu trotzen, oder? Wenn doch, dann muss ich zu meinem Bedauern weitere Maßnahmen ergreifen. Ich denke da ans Abtrennen deiner Hände ... ein bedauerlicher Unfall natürlich.“
Silmar erstarrte, doch Aláes war noch nicht fertig. „Stell dir vor, wie gut du es dann hast. Nicht einmal dein Glas musst du selbst zum Mund heben. Doch leider wird dich keine Frau in Moranshir mehr mit Begehren anblicken. Das einzige, was du noch in ihrem Blick sehen wirst, ist Mitleid.“
Einatmen. Ausatmen . Wenn Silmar sich auf seinen Atem konzentrierte, dann ging es irgendwie. Dann schaffte er es, sich nichts anmerken zu lassen.
„Erhol dich gut, Neffe“, sagte Aláes wieder lauter, erhob sich und schritt ohne einen Blick zurück zur Tür.
Vorsichtig erhob sich Silmar und stellte die Füße auf den Boden, ungeduldig winkte er einer Helferin, ihm seine Schuhe zu bringen. Er musste hier raus. Doch bevor er die Tür erreichte, ging sie schon auf – noch mehr Besuch! Erleichtert sah er, dass es diesmal Pharanee war – doch sie war bleich wie das Blütenblatt einer Anemone und zitterte am ganzen Körper. „Aláes ... eben ...“, stammelte sie. „Er wusste, dass ich diese Botschaft ... er sagte, dass er mir ... dass er ...“
„Ich weiß“, sagte Silmar und nahm sie in die Arme. „Zu mir hat er es auch gesagt.“
Pharanee erwiderte die Umarmung, doch sie ließ sich nicht gegen ihn sinken. Ihr Körper fühlte sich an wie aus Holz, und ihre violetten Augen waren glasig. „Er meint das auch so, nicht wahr?“
„Ja. Und selbst wenn er dafür verurteilt wird ... für uns ist es dann zu spät.“ Silmar versuchte sich ein Leben ohne Hände vorzustellen und schaffte es nicht.
„Lass uns fortgehen von hier, jetzt gleich“, flüsterte Pharanee.
Doch Silmar spürte, wie die Wut zurückkehrte, die ihn damals erfasst hatte, nachdem Aláes das magische Amulett des Lin´tháresh zerstört hatte. Es war eine kalte Wut, klar und hart wie Eis, und er konnte fühlen, wie sie ihm seine Kraft zurückgab. „Nein“, sagte er – mit Absicht so laut, dass die Heilerinnen ihn hören konnten. „Dieser Mann darf nicht König werden!“
Die meisten Heilerinnen blickten drein wie Eulen, wenn es donnert, doch diejenige mit den mondfarbenen Haaren nickte und begegnete seinem Blick. „Was können wir tun?“, fragte sie.
Dankbar lächelte Silmar sie an. Er musste nur kurz überlegen, bis ihm etwas einfiel. Rasch, bevor die Angst ihn wieder in den Griff bekam, nahm er die Wortführerin beiseite und begann leise zu sprechen.
***
Erleichtert sah Jerusha, dass in Loreshom noch fast alles so war wie bei ihrer Abreise. Auf den Feldern grasten schwarzköpfige Kehanoschafe, am Dorfweiher angelte ein Junge, auf dem Dach einer Kate putzte sich ein Storch das Gefieder. Nirgendwo Leichen, nirgendwo brennende Häuser, den Göttern sei Dank! Noch war der Krieg nicht bis hierher vorgedrungen.
Doch ihre Botschaft schien angekommen zu sein, Barrikaden aus angespitzten Holzpfählen waren um das Dorf herum errichtet worden, und an den ungepflasterten Straßen, die ins Dorf hineinführten, standen Wachen. Jerusha erkannte Nicojem DoAlland, ihren Nachbarn, und Andros ElMoris, einen jungen Schmied. Sie versuchten beide ihr Bestes, grimmig dreinzublicken, und legten großspurig die Hand an den Griff ihrer Schwerter, als sie ihren kleinen Trupp erblickten.
„Woher und wohin?“, schnauzten sie die Priester an. Doch dann erkannten sie Jerusha, entspannten sich und lächelten sie verlegen an. „Ach, du bist es, alles in Ordnung?“, meinte Nicojem, und Andros fragte neugierig: „Wo ist Kiéran?“
„Kämpft an der Grenze“, sagte Jerusha, sie vermisste ihn schon jetzt furchtbar. Unwillkürlich verglich sie die beiden Gestalten vor sich mit ihm. Ihre Schwerter waren kaum besser als Schrott, die Klinge schartig, der Griff rostig – aber das war eigentlich egal, denn an der Haltung der beiden Männer sah man, dass sie sowieso nicht wussten, wie man mit einer Waffe umging.
„An der Grenze“, wiederholte Nicojem DoAlland tief beeindruckt. „Er wird sie alle fertigmachen!“
„Es sind ziemlich viele, fürchte ich – die schafft selbst er nicht alle“, sagte Jerusha mit einem schwachen Lächeln. „Ach ja, wisst ihr, wo meine Leute sind?“
„Die haben ihre Sachen gepackt und sind ab in den Wald“, meinte Andros und beäugte neugierig die beiden Priester, die schweigend auf ihren Pferden hockten. „Niemand anders wollte mitkommen. Bei diesem Wetter im Wald nächtigen, Ghalil bewahre!“
Ihnen ist nicht klar, wie gefährlich die Eliscan wirklich sein können , dachte Jerusha beunruhigt und war froh, dass ihre Familie getan hatte, worum sie sie gebeten hatte. Sie fragte nach ihrer Freundin Kianna, doch die war gerade auf einer Reise nach Uskaja, um dort ihre Waren anzubieten. Sie würden sich nicht verabschieden können. Zum Glück lag Uskaja noch weiter von der Grenze entfernt als Loreshom, dort war es sicherer als hier.
Traurig bedankte sich Jerusha für die Auskunft, sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen dabei, all ihre Freunde und Nachbarn zurückzulassen und selbst in einem Spiegeltempel Schutz zu suchen. Hilft nichts , dachte sie verbissen, niemals hätte ich die Genehmigung bekommen, alle Dorfbewohner im Tempel unterzubringen.
Sie ritt kurz bei ihrer Kate vorbei, um Ersatzkleidung, ein neues Stück Seife und weiteren Proviant zu holen. Vorsichtig strich sie über die schwarzlila Blüten ihrer Nachtlilien, die wie immer zu dieser Zeit geschlossen waren. Ich bin wieder da, sobald ich kann , versprach sie ihnen lautlos, dann ritt sie los zum Fir Evarn. Sie konnte es kaum noch erwarten, ihre kleine Schwester wiederzusehen, seit fast einem Mond hatte sie ihre Stimme nicht mehr gehört. Instinktiv trieb sie Damaris zum Galopp an, und die Priester folgten auf ihren Pferden.
Noch allzu gut erinnerte sich Jerusha daran, wie sie zuletzt auf dem Fir Evarn gestanden hatte ... in dieser ganz besonderen Nacht von König Qedyrs Ankunft. Jetzt war es hell, und an diesem regnerisch-kühlen Nachmittag sah alles sehr viel gewöhnlicher aus, auch die Baumgesichter.
Suchend sah Jerusha sich nach Liri um, doch keine Spur von ihr und ihrer Mutter.
„Heda! Wo seid ihr?“, rief Jerusha, und in einem immergrünen Baum in der Nähe raschelte es plötzlich. Zwei Hände drückten die Zweige auseinander, und Liris übermütiges Gesicht lugte hervor. „Shani!“, schrie ihre kleine Schwester, und kurz darauf lagen sie sich in den Armen. Wie immer trug Liri ihren Bogen über der Schulter, auch wenn er beim Klettern sicher hinderlich gewesen war. Ihre kurzen hellblonden Haare brachten ein wenig Sonnenschein in den grauen Tag.
Auch ihre Mutter tauchte auf, sie hatte sich unter einem Baum ein Lager gerichtet, das durch eine gewachste Plane vor dem Wetter geschützt war. Noch immer wirkte Myrial gleichgültig, wie erloschen, und mehr als eine freundliche Begrüßung, wie sie auch zwischen Fremden angemessen gewesen wäre, schafften sie beide nicht. Es war undenkbar, ihr freudig zu erzählen, dass Kiéran ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Dafür war später noch genug Zeit, und vielleicht würde sich wenigstens Liri darüber freuen.
„Wir müssen sofort los“, teilte Jerusha ihrer Familie mit.
„Ja, aber ... wohin sollen wir denn gehen?“ Ihre Mutter klang ratlos. „Und die Nacht kommt bald, bei Dunkelheit können wir nicht reisen.“
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