Diesen Mann sollte sie nun zum Partner nehmen? Niemals! Sie konnte sowieso nicht begreifen, was Thore von ihr wollte. Alle anderen Männer mieden sie, weil sie so blass war, bleicher als jeder in Hjolmfort. Ihre silbergrauen Augen und fast weißen Haare, in denen nur einzelne braune Strähnen schimmerten, waren einzigartig. Außerdem war sie nicht ansprechend gerundet und auch ihre Brüste blieben flacher als die der anderen Mädchen in ihrem Alter. Das machte sie zu einem misstrauisch beäugten Wesen.
Oder bildete sie sich das nur ein? Vielleicht hatten die jungen Männer Angst vor ihr, weil Thore sie haben wollte? Er wollte immer das Besondere. Also durfte niemand Interesse an ihr zeigen, sonst würde Thore ihm schon zeigen, was er davon hatte - nichts nämlich, außer gebrochener Knochen.
Kjellrun seufzte.
Vielleicht hatte ihre Mutter Recht. Sie musste endlich einen Mann nehmen, die Jungfräulichkeit verlieren und in den Schatten jagen gehen. Mit ihren siebzehn Jahren war sie schon viel zu lange Jungfrau. Was war denn schon dabei, wenn sie mit einem Mann zusammen lag? Ihre Mutter hatte es doch auch getan, einst, als ihr Vater noch lebte. Oder etwa nicht?
Kjellrun runzelte die Stirn. Sie hatte ihren Vater nie kennengelernt. Die Mutter war aus einem anderen Dorf hergezogen, weil dort alles sie an den Mann erinnerte, der von einem mächtigen, wilden Bären getötet worden war. Damals war sie mit Kjellrun schwanger gewesen. Man hatte Ingvild in Hjolmfort aufgenommen und mitversorgt. Kjellrun trug noch heute an der Schuld ab.
Denn das war das Gesetz des Dorfes Hjolmfort im Reich von Wuldor, dem Gott der eisigen Kälte und des ewigen Winters. Wenn man die Hilfe der anderen brauchte, um zu überleben, so musste man zurückgeben, was man empfangen hatte, sobald man die Kraft dafür fand.
Ingvild hatte nie jagen gelernt. Sie konnte nichts zurückgeben. Es war ein Wunder, wie sie so alt hatte werden können, ohne auch nur ein einziges Mal auf die Jagd gegangen zu sein.
Kaum war Kjellrun fünf Jahre alt, lernte sie Schlingen legen. Sie huschte den Erwachsenen hinterher, um sie heimlich zu beobachten und alles begierig aufzusaugen, damit sie es später ausprobieren konnte. Von der Mutter lernte sie nichts über die Jagd. Sie brachte ihr nur nähen und kochen bei und erzählte ihr etwas über die Pflanzen, die sie in Pflanzschalen züchtete. Doch die Pflanzen schenkten nicht genug Energie, um die Kälte überstehen zu können.
Alles, was Kjellrun über die Jagd wusste, hatte sie von den größeren Männern und Frauen gelernt. Auch das Schnitzen von Pfeilen, das Biegen eines Bogens, selbst die Herstellung der kostbaren Wurfpfeile hatte sie erlernt, indem sie um die Großen herumgeschlichen war und zuschaute. Da ihre Mutter nicht erlaubte, dass Waffen im Haus waren, konnte Kjellrun sich keinen Bogen machen. Doch Wurfpfeile und eine kleine Schleuder versteckte sie an ihrem Körper und nahm sie immer mit sich, wenn sie sich zum Schlafen zurückzog. In ihren Schlingen, die sie im Wald auslegte, fand sie ab und zu Hasen. Manchmal hatte aber auch ein Fuchs die Beute schon für sich beansprucht, was dann wieder weniger Fleisch für sie und ihre Mutter bedeutete.
Viele Gedanken schwirrten in Kjellruns Kopf herum in dieser Nacht. Denn es war die Nacht des Abschieds. Morgen früh, wenn der erste Tagesschein die Schatten vertrieb, würde sie aufbrechen. Auf keinen Fall wäre sie mehr hier, wenn Thore vorsprach. Sollte er doch ein anderes, williges Mädchen mit sich zur Jagd nehmen.
Was aber sehr schwer auf Kjellruns Seele lastete, war ihre arme, alte Mutter. Wer würde sich um sie kümmern, wenn sie ging? Thore hatte ihr nur Schutz versprochen, wenn es zu einer Bindung kam. Die würde es aber niemals geben, niemals!
„Ich muss zu Sjard und ihn um Hilfe bitten“, flüsterte Kjellrun, als ihr die Augen vor Müdigkeit schon zufielen. „Sjard ist ein guter Mann, ein guter Junge. Ein treuer Freund. Er wird auf Mutter achten.“ Bevor sie endgültig einschlief, huschten durch ihre Gedanken heulende Wölfe. Scharen von weißen und grauen Wölfen, deren orangene, blaue und silbergraue Augen in der Dunkelheit leuchteten. Als letztes schoss ihr durch den Kopf: Ulvershom. Die Heimat ihrer Eltern. Dann schlief sie ein.
KJELLRUN
Kjellrun wachte sehr früh auf, so früh, dass sie die Hütte noch nicht verlassen durfte. Obwohl sie nichts von den Sagen der Alten hielt, musste sie ja doch nichts herausfordern. Vielleicht galten hier im Dorf andere Regeln als später unterwegs, wenn sie nach Ulvershom gehen würde. Denn das hatte sie nun beschlossen. Ulvershom war ihr Ziel, um mehr über die Mutter und den Vater herauszufinden. Vielleicht traf sie dort auch endlich auf Leute, die aussahen wie sie: weißblonde Haare und silbergraue Augen.
Ungeduldig stand sie an ihrem Fenster und starrte hinaus, beobachtete die Schatten, die immer kleiner wurden, je höher das Licht stieg. Sie musste den richtigen Zeitpunkt finden. Nur etwas zu lang und die Mutter würde wach werden und sie nicht fortlassen. Oder, was noch viel schlimmer wäre, Thore stand vor der Tür, um sie zur Jagd abzuholen. Wenn sie ihm in die Arme lief, dann war sie verloren. Gegen den großen, starken Mann kam sie nicht an. Vor ihrer Mutter gegen Thore kämpfen, nein, das konnte sie niemals tun. Es würde ihr das Herz brechen.
Genau in dem Augenblick, als der letzte Hauch von Schatten vom Himmel aufgesogen wurde, schnappte sie sich ihren kleinen Rucksack, den sie mit ein paar Kräutern, Eisbeeren und einem Trinkschlauch befüllt hatte. Vorsichtig sprang sie zum Fenster hinaus und lief geduckt zur Hütte, in der Sjard mit seinen Eltern und Geschwistern wohnte. Leider schlief er mit seinen zwei Brüdern in einer Kammer, so würde es nicht leicht sein, ihn allein zu sprechen. Zumindest erreichte sie nicht nur seine Hütte unbehelligt, auch bis zu seinem Fenster kam sie problemlos. Sie blickte nervös um sich, ließ den Rucksack vorsichtig in den Schnee gleiten und dann kletterte sie so leise wie möglich in den Raum. Bei allen Seelen des Reiches! Sie musste sich sputen, die Zeit drängte und gewiss würde Thore sie genau hier vermuten, wenn er sie nicht bei Ingvild traf.
Kjellrun hielt den Atem an, als sie über Skalle stieg, der mit ausgebreiteten Armen auf seiner Matte schlief. Wie konnte man nur so schlafen? Fror er denn gar nicht? Jetzt musste sie irgendwie über Kimi hinweg gelangen, der älter und größer als sie war. Sein Leibesumfang machte es ihr nicht gerade leicht. Wieso nur war ihre Schlafkammer so winzig, dass Kimi fast schon an die Seitenwände anstieß?
Sie atmete ein paar Mal ein und aus, dann hob sie ihr Bein setzte zum Sprung an. Wenn Kimi sich jetzt bewegte, würde sie auch ihn treten und alles wäre vorbei.
Es muss gelingen, es muss gelingen! , dachte Kjellrun, stieß sich ab und landete dicht neben Kimis breiter Brust. Mit wild klopfendem Herzen blieb sie einen Moment da stehen. Sie musste ihre Atmung wieder unter Kontrolle bekommen, sonst konnte sie nicht mit Sjard reden. Das aber war ihr so wichtig, dass sie es riskierte, hier erwischt zu werden.
Endlich verlangsamte sich ihr Herzschlag und sie konnte wieder gleichmäßig atmen. Langsam drehte sie ihren Kopf und schaute zu Kimi und Skalle hinunter. Die beiden rührten sich nicht, dafür schnarchte Kimi ziemlich laut. Seine Frau würde sich später sicher nicht darüber freuen. Kjellrun grinste, erinnerte sich aber schnell, dass sie selbst wegen dieser Mann-Frau-Geschichte hier war. Sie hockte sich und beugte sich so tief hinunter zu Sjard, wie sie nur konnte. Auf keinen Fall durften ihre Worte diesen Raum verlassen. Sie war sich sicher, dass Tessa, die Mutter der Jungen, schon wach war und das Frühstück für die Familie zubereitete. Das bedeutete auch, dass ihre eigene Mutter bald aufstand und bemerken würde, dass die Schlafstelle der Tochter leer war. Jetzt kam es auf jeden Augenblick an!
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