Dann sah sie sie. Orange leuchtend. Unheimliche runde Flecken in der Dunkelheit. Kjellrun blieb zwischen zwei Stämmen stehen und presste sich mit dem Rücken so fest an einen, dass sie glaubte, jede Kerbe in ihm zu spüren, jeden Riss in der groben Borke.
Eins, zwei, drei, vier .. . In Gedanken zählte sie die leuchtenden Punkte, die starr in der Luft zu schweben schienen. Waren das die Krieger von Wuldor? Würde er sie jetzt holen? Bei allen Eislichtern, hatte ihre Mutter vielleicht recht gehabt mit ihren Warnungen und gleich war es vorbei mit ihrem Leben, mit ihrer dummen Flucht?
Bedrohlich schimmerten die orangenen Punkte zu ihr herüber. Wie kleine Feuer. Es dauerte einen Moment, ehe eine Erkenntnis ihre Gedanken flutete. „Augen!“ Erschrocken entwich ihr das Wort, bevor sie sich daran hindern konnte. Ängstlich riss sie ihre silbergrauen Augen weit auf und schlug die rechte Hand vor ihren Mund. Als ob sie so den Ausruf ungeschehen machen könnte. Ihr Herz begann heftig zu schlagen, fast schon schmerzhaft pochte es in ihrer Brust.
Grrrr ...
Kein Heulen drang zu ihr, sondern ein tiefes, kehliges Knurren. Die Punkte rührten sich nicht. Doch das Geräusch wurde lauter.
Kjellrun drehte den Kopf und entdeckte weitere leuchtende Flecken, so groß wie die Knochenknöpfe, mit denen sie ihren Umhang zusammenhielt. Aber sie wusste genau, dass diese Feuerpunkte aus der Nähe um ein Vielfaches größer waren. Hektisch blinzelte sie, um die Tränen zurückzuhalten. Ihr Herz pochte lauter und heftiger. Wenn Thore irgendwo in der Nähe nach ihr suchte, würde er es bestimmt hören können und sie retten! Er musste sie einfach retten!
Ganz, ganz langsam rutschte Kjellrun den Stamm hinunter und zog ihr Messer hervor. Sie versuchte sich so klein zusammen zu kauern, wie sie nur konnte, und hielt das Messer vor ihrer Brust mit beiden Händen umklammert. Wenn sie mit der Dunkelheit verschmolz, vielleicht sahen diese Ungeheuer mit den brennenden Augen sie dann nicht und liefen einfach weiter?
Meine Haare! , schoss es ihr durch den Kopf. Hastig legte sie das Messer neben sich und zog mit zittrigen Fingern die Kapuze des Umhangs über ihren hellen Zopf und so tief über die Stirn, dass nur noch ihr bleiches Gesicht hervorleuchten konnte. Während sie nach ihrem Messer tastete, bahnte sich Erleichterung einen Weg durch ihren Körper. Dabei wusste sie tief in sich, das war Unsinn. Die Jägerin in ihr kannte die empfindlichen Nasen der Jagdtiere. Diese Wesen dort vor ihr hatten sie längst gerochen. Sonst hätten sie sich nicht in einem Kreis um sie herum geschart, obwohl das bei den eng stehenden Bäumen eigentlich nicht möglich war.
Warum warten sie dort?, fragte sie sich und drehte vorsichtig den Kopf, um zu zählen. Aus zwei Augenpaaren waren mittlerweile sechs geworden. Wenn das so weiter ging, brauchte sie sich keine Gedanken mehr über die Dunkelheit machen oder wie sie nach Ulvershom finden sollte. Denn dann war sie in Stücke gerissen und zu einer Festmahlzeit für eine Meute ... von was eigentlich? ... geworden.
Waren es Eisfüchse? Aber die hätten ihre Augen viel näher am Boden, da sie klein waren.
Waren es Wildschweine? Nein, die hatten kleine, winzig kleine, schwarze Augen, keine so leuchtenden, orangenen.
Aber Eisfüchse hatten auch keine leuchtenden Augen. Außerdem kannte Kjellrun kein einziges Tier, das orangene Augen hatte.
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Die Mutter hatte recht gehabt mit ihren Geschichten über die Ewige Eisjungfer und über Wuldor. Es waren keine Schauermärchen gewesen, um ungehorsame Kinder zu braven Helfern heranzuziehen. Alle Warnungen entsprachen der Wahrheit. Alle! Diese Wesen um sie herum konnten keine normalen Waldtiere sein. Der ganze Wald konnte nicht normal sein. Wuldor und die Ewige Eisjungfer hatten diese Wesen erschaffen, um nach Jungfrauen zu suchen. Die Wesen dort vorne würden sie jagen, zu Wuldor treiben und sie dann seiner Gnade ausliefern. Ganz sicher.
Noch während sie über ihre aussichtlose Lage nachdachte, kamen die Punkte näher.
Grrrr ...
Auch das Knurren kam näher. War da nicht sogar ein beißender Geruch von nassem Fell? Obwohl es völlig unmöglich war, spürte sie einen warmen Atem in ihrem Nacken. Panisch drehte sie den Kopf. Sie starrte direkt in silberne Augen, glitzernd wie kleine Eisflocken inmitten einer dunklen Nacht.
Wölfe.
Nur dieses eine Wort zuckte durch ihre Gedanken. Bewegungslos kauerte sie am Boden, fühlte den durchdringenden Blick des Tieres vor sich. Ihr Herz schlug so laut, dass diese Bestie es bestimmt fühlen konnte. Am Rande ihres Bewusstseins erinnerte sie sich an das Messer. Doch sie wagte nicht, weiter danach zu tasten. Wie erstarrt blickte sie das Ungeheuer an.
Grrrr ... Leise knurrte der Wolf, hob seine Lefzen. Scharfe, lange Eckzähne kamen zum Vorschein, schneeweiße, kleine, spitze Zähne dazwischen. Ein furchterregendes Gebiss. Die Eckzähne waren bestimmt so lang wie ihre Hand. Und die Schnauze war so nah vor ihrem Gesicht, dass sie das Vibrieren seines Knurrens an ihren Wangen fühlte.
Tränen schossen Kjellrun in die Augen. So hatte sie sich ihren Tod nicht vorgestellt. Dieses Tier würde sie bestimmt nicht zu Wuldor treiben. Es würde gleich die Schnauze weit aufreißen und ... Kjellrun presste ihre Augen fest zusammen, verdrängte die salzigen Tränen. Ihr gesamtes Gesicht verzog sich, als ob sie große Schmerzen hätte, dabei war ihr klar, wenn erst alle Wölfe über sie herfielen, würde sie nicht lange leiden. Ihre Seele würde kaum schnell genug entweichen können, so rasch wäre ihr menschlicher Körper zerfleischt.
Sie spürte eine kühle Schnauze an ihrer Wange.
Am ganzen Körper zitternd erwartete sie den Todesbiss. Um es zu beschleunigen, drehte sie ihren Oberkörper und legte den Kopf in den Nacken. Vereinzelte Tränen rannen die Augenwinkel hinunter, während sie ihre Kehle präsentierte. In ihren Ohren rauschte es, Schweiß bildete sich an ihrem Haaransatz. Bald war es vorbei. Der Atem des wilden Tieres erschien ihr unglaublich warm an ihrem kalten Hals, fast schon wie eine Liebkosung. Beiß endlich zu! Sie konnte die Augen nicht öffnen, wollte nicht diese Augen sehen, die ihren eigenen so unglaublich ähnlich waren. Silbergrau und nicht orange.
KJELLRUN
Fiiiiiiii ...
Ein durchdringender, greller Pfiff ertönte.
Ohne es zu wollen, zuckten Kjellruns Hände hoch an ihre Ohren. Auch wenn das Blut wild in ihnen rauschte, dieser Pfiff durchdrang alles. So fest sie konnte, presste sie die Hände an die kalten Ohrmuscheln, spürte die Feuchtigkeit der Tränen, die hinuntergeronnen waren.
Wo blieb der tödliche Biss? Wieso fühlte sie noch immer keine spitzen, scharfen Zähne an ihrer Kehle? Sollte sie es wagen?
Langsam öffnete Kjellrun ihr linkes Auge. Dort müsste sie jetzt eigentlich die schwarze, vor Feuchtigkeit glänzende Nase des gefährlichen Tieres sehen. Oder weiße, krumme Zähne. Aber nichts, dort war absolut nichts.
Fiiiiiiii ...
Erneut drang der schreckliche hohe Ton an ihre Ohren. Nicht einmal ihre Hände konnten das schmerzhafte Geräusch fernhalten. Kjellrun senkte den Kopf und öffnete nun auch das andere Auge. Blinzelnd versuchte sie, in der dämmrigen Umgebung etwas zu erkennen. Aber da war nichts. Kein Wolf, keine orangenen Augen, einfach ... nichts!
Ganz vorsichtig nahm sie die Hände von ihren Ohren und richtete sich etwas auf. Überaus langsam drehte sie sich, um zur Stelle schauen zu können, von der Silberauge gekommen war. Schimmerte nicht etwas schwarz in der Dunkelheit der Bäume? Eine unnatürlich intensive Schwärze? Ja, da war etwas oder jemand. Sie konnte es sehen. Ganz bestimmt.
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