„Guten Abend Conny. Na, war die Karlsbader Schnitte nicht schmackhaft genug oder hattest du wie so oft keinen Appetit? Bei deiner schlanken Figur hast du es doch nicht nötig, auf das Abendessen zu verzichten.“
Die getroffene Feststellung äußerte er ohne jeglichen Unterton in der Stimme, dabei glich sein Gesicht einer starren Maske. Dennoch bekam Conny eine Gänsehaut und ein Schauer kroch ihr wie eine glitschige Nacktschnecke über den Rücken. Der Auslöser für diesen lag eventuell auch an Falks Augen. Sein verschleierter Blick durchbohrte sie so eindringlich, wie wenn er ein Röntgenbild von ihrem Inneren erzeugen würde. Sie hatte keine Lust auf Erklärungen, nur das Bedürfnis schleunigst dieser für sie unangenehmen Situation zu entkommen. Also griff Conny zu einer Notlüge.
„Abend Herr Wegener. Es ist alles in Ordnung. Ich habe nur eine Kleinigkeit auf dem Zimmer vergessen. Bin gleich wieder bei den anderen.“
Mit diesen Worten hastete sie zwei Stufen auf einmal nehmend, in den ersten Stock. Atemlos riss sie die Tür ihrer Stube auf und eilte hinein. Vorsorglich drehte sie den Schlüssel hinter sich zweimal im Schloss herum. Schwer atmend, aber erleichtert, lehnte sie sich mit dem Rücken an das kühle, glatte Holz. Obwohl ihr klar war, dass es absolut keinen Grund für ihre Ängstlichkeit gab, kam ihr das Zimmer sofort wie eine schützende Höhle vor. Langsam ließ ihr Herzklopfen nach und sie atmete wieder gelassener.
Nachdem sie sich gefangen hatte, rappelte sie sich auf, und wankte mit noch ein wenig wackligen Beinen zu ihrem Bett. Was war sie nur für ein Hasenfuß. Wegener hatte ihr doch nichts angetan. Sie lachte kaum vernehmlich ihre eigene Unsicherheit weg.
Um sich abzulenken, kramte sie ihr Tagebuch hervor. Unkonzentriert und ohne zu sehen was sie zuletzt geschrieben hatte, blätterte sie durch die mit Buchstaben gefüllten Seiten. Dabei knabberte sie gedankenverloren an ihrem Bleistift herum.
Falk Wegener bewohnte eine alte Einliegerwohnung in einem Fünfhundertmeter entferntem Haus der Schule. Eine überschaubare zweckmäßig eingerichtete Küche, Schlaf- und Wohnzimmer in einem Raum, Bad mit winziger Dusche, mehr Komfort brauchte er nicht. Obwohl die Bleibe recht bescheiden und begrenzt war, lebte er gern an diesem Ort. Eine Ehefrau sowie eigene Kinder spielten in seinem Leben keine Rolle. Sicherlich hatte er Frauenbekanntschaften, aber eben nichts Festes. Für solche ausgesuchten Treffen fuhr er lieber in die Kreisstadt. Auf Klatsch und Tratsch im Ort oder gar unter seinen Schülern, was sein Liebesleben betraf, hatte er absolut keine Lust.
Es gab Momente, da sehnte er sich nach einer festen Bindung. Heim kommen, sich über den Tag austauschen, Probleme des Alltags teilen, mit jemandem der einem zuhörte, all das konnte er sich mühelos vorstellen. Das Ritual des gemeinsamen Beisammenseins zum Beispiel beim Abendessen, kannte er aus seinem Elternhaus. Obwohl man nicht nur positive, sondern auch unschöne Ereignisse in jener abendlichen Runde besprochen hatte, erinnerte er sich sehr gern an diese Augenblicke. Zeitweise vermisste er das Gefühl der Geborgenheit.
Die Arbeit in seinem Heim wie er es nannte, war sein Lebensinhalt. Aufgrund der räumlichen Nähe war er im Notfall schnellstens vor Ort. Dennoch kam er nicht drum herum sich ein Telefon anzuschaffen, ob er wollte oder nicht. Eigentlich hatte er nicht vor, sich einen Apparat ins Haus zu holen. Er brachte ausreichende Argumente, wer im Ort viel dringender einen benötigte. Aber das fand bei niemandem Beachtung. Ihm als Heimleiter, verantwortlich für einhundertfünfzig Kinder, stand nun mal so ein Telefonapparat zu. Trotz endloser Diskussionen mit den bevollmächtigten Funktionären, gelang es Falk nicht, sich gegen die Anschaffung des Telefons für seine Privaträume zu wehren. Er haste es zu telefonieren. Lästige Anrufe über Problembeschreibungen waren anstrengender, wie mal eben flink im Kinderheim vorbeizuschauen. Wenn nötig auch nach Feierabend. Bei den anderen Mitarbeitern des Heimes stieg er durch seine ständige Anwesenheit, und die damit verbundenen Kontrollen nicht gerade in der Beliebtheitsskala auf. Aber das war ihm egal. Wer meinte ein Problem mit ihm zu haben, der hatte es ihm gefälligst zu sagen. Diese Einstellung versuchte er auch seinen Schülern mit auf den Weg zu geben. An dem Eintritt der Kinder in die Massenorganisationen der DDR, einmal die Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ zum anderen der kommunistische Jugendverband der Freien Deutschen Jugend (FDJ), führte kein Weg vorbei. Beide Vereinigungen fungierten schließlich wie ein Teil eines Erziehungssystems zeitgleich zum Schulalltag. Das SED Regime sah vor, Kinder und Jugendliche dieser Organisationen zu klassenbewussten Sozialisten zu erziehen. Davon hielt er überhaupt nichts. Wegeners Antrieb war es, seine Schützlinge darin zu bestärken, dass sie offen, ehrlich, mit Selbstvertrauen und eigener Meinung auftraten. Diese Einstellung eines Pädagogen, sahen manche Funktionäre des Rates des Stadtkreises nicht so gern. Denen war es lieber, wenn sich alle Kinder gleichermaßen zu sozialistischen Persönlichkeiten entwickelten. Falk legte keinen gesteigerten Wert auf deren Meinung und hielt an den eigenen Erziehungsmethoden fest. Ihm lag nur das Wohlbefinden seiner Schüler am Herzen, auch wenn diese das durch sein oft schroffes Benehmen, nicht zu schätzen wussten.
Heute war es ab dem frühen Abend, wie an fast jedem Samstag, recht friedlich in dem Gebäude, denn ein Großteil der Heimkinder war auf dem Weg in den ortsansässigen Jugendklub. Er gönnte den Heranwachsenden ihren Spaß. Ihm war klar, dass Jörg, den er die Tage vor seinem Bürofenster erwischt hatte, in dem mitgeschleppten Rucksack weder Limo mit sich trug und erst recht keine Bücher, wie er behauptet hatte. Durch sein bewusst aufbrausendes Verhalten hoffte er, dem Jungen gegenüber klarzumachen, dass ihm aufgefallen war, was er da tatsächlich ins Heim geschmuggelt hatte. Mit Sicherheit war das Signal bei Jörg angekommen und sein Auftritt würde sich ruck zuck unter den Jugendlichen rumsprechen. Da es noch nie ernsthafte Probleme mit Alkohol bei diesen gegeben hat, drückte er in den meisten Fällen ein Auge zu. Schließlich war er auch mal in dem Alter und hatte gemeinsam mit seinen Freunden vor den wöchentlichen Tanzveranstaltungen ein paar Biere gezischt. Er trat ans Fenster und schaute gedankenverloren hinaus. In Erinnerung an diese Abende huschte ein verklärtes Lächeln über sein Gesicht.
In dem Moment erblickte er Hanna und Conny. Die beiden Freundinnen hätten von ihrem Äußeren unterschiedlicher nicht sein können. Hanna trug eine rote Steghose aus Cord, welche ihrer Figur nicht sonderlich schmeichelte. Abgestimmt auf die Farbe ihrer Hose zeigte sich ihr Lippenstift, der kräftig aufgetragen war und ihren Mund, wie den von Clown Ferdinand erstrahlen ließ. Conny hingegen war ganz in schwarz gekleidet. Auch an diesem Abend trug sie ihr Haar zum Pferdeschwanz, zusammengebunden mit einem glitzernden Samtband. Ihr Make-up war dezent gehalten und auf den zarten Lippen schimmerte ein Hauch von rosafarbenem Lippenbalsam. Hanna tobte vorneweg und redete mit den Händen wedelnd, ohne Punkt und Komma auf ihre Freundin ein. Es sah aus, wie wenn sie einen Schwarm Mücken verscheuchte. Conny schmunzelte über das Gesagte und schritt leichtfüßig mit wippendem Gang hinter ihr her.
Falks Augen klebten an ihrer Erscheinung wie eine Fliege an einem Klettband. Sie sah hinreißend aus. So unschuldig und zugleich reizvoll. Sicherlich würde sie sich vor Verehren nicht retten können. Der Gedanke daran versetzte ihm einen kurzen Stich, der ihn bis ins Innere schmerzlich zusammenzucken, ließ. Natürlich träumte er schon mal davon, wie es wäre, mit diesem zauberhaften Wesen zusammen zu sein. Allerdings hatte er nicht das Recht dazu, irgendwelchen Hoffnungsschimmer aufkommen zu lassen. Conny war nur eine Schülerin und daran würde sich nichts ändern. Seufzend wendete er sich vom Fenster ab. Er kam nicht umhin, diese Gefühle endgültig zu verdrängen.
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