Sie betraten das Haus durch die große Holztür. Der bisherige Eindruck wurde auch hier bestätigt. Georgs Blick traf direkt die wunderschöne Eichenholztreppe, die von der linken Seite gewendelt nach oben führte. Der Eingangsbereich war durch die vielen Fenster sehr hell. Auch der Innenbereich war aus Holz. Alle Wände und Decken bestanden aus massivem Eichenholz. Rechts konnte er durch einen schönen Torbogen die Küche sehen. Er ging hinein. Sie war sehr geräumig und soweit er das auf den ersten Blich sehen konnte mit allen üblichen Küchengeräten ausgestattet. Auch die Arbeitsfläche war sehr großzügig gestaltet. Von der Küche aus konnte er direkt in das Wohnzimmer gehen. Eine schöne, breite Couch stand in der rechten Ecke, ein kleiner Tisch sowie zwei gemütlich aussehende Sessel. Er sah einen offenen Kamin und viele Holzregale an der Wand. In den Regalen sah er eine Menge Bücher und ein paar kleine Holzfiguren, die verschiedene Tiere darstellten. Der Boden war wie im ganzen Erdgeschoß mit Terrakotta-Fliesen ausgelegt. Er sah auch eine kleine Stereoanlage und einen Flachbildfernseher. Am Ende konnte er durch die breite Fensterfront die Terrasse und den Garten sehen. Er hatte sich in das Haus verliebt!
„Ich bin begeistert.“ sagte Georg zu Herrn Gonzales.
„Na, das freut mich. Ich habe mich hier auch immer sehr wohl gefühlt, wenn ich ihre Tante besucht habe. Möchten Sie jetzt nach Oben gehen?“
„Haben Sie alle Unterlagen mit?“
„Ja, hier in meiner Tasche. Haben Sie sich denn schon entschieden, das Erbe anzunehmen?“
„So ist es. Ich würde gerne das Erbe annehmen.“
„Gut, dann lassen Sie uns hier am Tisch Platz nehmen und ich zeige Ihnen die Unterlagen.“
Sie setzten sich hin und Georg las sich die Annahmeerklärung durch.
„Das sieht ja soweit gut aus. Hier unten muss ich unterschreiben?“
„Ja“
„Wenn ich unterschrieben habe, was passiert als nächstes?“
„Ich muss dann nur noch selber unterschreiben und die Annahmeerklärung zum zuständigen Amtsgericht nach Mérida bringen. Dort wird sie dann bearbeitet und nach 1-2 Wochen erhalten Sie alle erforderlichen Unterlagen für dieses Haus von uns bzw. vom Amt.“
„O.K. Das hört sich ja gut an. Schön, dann werde ich mal unterschreiben.“
Er unterschrieb die Annahmeerklärung und gab sie Herrn Gonzales.
„So, Herr Becker, das freut mich, dass Sie sich entschieden haben, dieses Haus zu übernehmen. Ich habe hier noch einen Umschlag für Sie. Frau Hernandez hatte uns beauftragt Ihnen diesen Brief nur zu überreichen, wenn Sie das Erbe annehmen.“
Er gab Georg einen DINA 4 Umschlag auf dem stand: Für Georg.
„Oh, danke.“
„Ich habe die Hausschlüssel hier auf den Tisch gelegt. Schauen Sie sich gerne in Ruhe alles an. Ich werde wieder ins Hotel gehen. Wenn Sie Herrn Ramirez sprechen möchten, er wohnt im rechten Nachbarhaus. Ich habe ihm schon gesagt, dass Sie ihn evtl. sprechen möchten. Er versteht Englisch und auch Deutsch ganz gut, also dürften Sie sich mit ihm unterhalten können. Wenn noch Fragen sind, ich gebe Ihnen meine Visitenkarte. Ich bin noch bis Morgen früh im Hotel. Wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, wünsche ich Ihnen jetzt schon einmal alles Gute.“
„Ja, danke, gleichfalls Herr Gonzales. Ich schaue mir erst einmal den Inhalt des Umschlages an und dann den Rest des Hauses. Auf Wiedersehen.“
Herr Gonzales ging und Georg setzte sich wieder hin. Er öffnete den Umschlag und holte ein DINA 4 großes Blatt heraus. Es war auf beiden Seiten per Hand beschrieben. Georg legte das Blatt vor sich auf den Tisch und begann zu lesen.
Lieber Georg,
ich hoffe, Dir geht es gut. Du wirst Dich wahrscheinlich wundern, dass ich Dir mein Haus vererbt habe, da wir ja seit so vielen Jahren keinen Kontakt mehr hatten. Aber das hat auch einen Grund.
Du bist das letzte Glied einer langen Kette, deren Anfang vor fast 500 Jahren liegt. Im Jahre 1527 a.D. nahm Raul Hernandez an einer Expedition teil, die bis heute noch viele Fragen offen lässt. Die genauen Informationen dieser Expedition hat er in einem Expeditionsbericht niedergeschrieben. Dieser Expeditionsbericht ist seitdem im Besitz unserer Familie Hernandez. Da der Inhalt dieses Expeditionsberichtes im Widerspruch zur Katholischen Kirche steht und somit als Ketzerei angesehen werden könnte, wurde er viele Jahrzehnte lang unter Verschluss gehalten. Er wurde zwar innerhalb der Familie immer weitergegeben, aber richtig mit dem Inhalt befasst hat sich keiner und war dann schließlich auch in Vergessenheit geraten. Erst im Jahre 1999 habe ich mich damit befasst. Als mein Vater am 5. Juni 1999 verstarb, erbte ich sein Haus, da meine Mutter bereits 1996 gestorben war. Beim Durchsuchen seiner Unterlagen entdeckte ich den Expeditionsbericht von meinem und auch Deinem Vorfahren Raul Hernandez. Es war noch ziemlich gut erhalten. Nachdem ich den Expeditionsbericht gelesen hatte, wusste ich, dass es sich um einen sehr interessanten Inhalt handelte. Da ich nicht verheiratet war und keine Kinder hatte, war ich nun alleine und dachte mir, ich wende mich an meine Schwester, Deine Mutter. Vielleicht konnte sie mir dabei helfen, die sich aus dem Inhalt ergebenen Fragen zu beantworten. Wenn Du den Expeditionsbericht gelesen hast, dann wirst Du wissen, was ich meine. Conchita wusste nicht genau, was sie machen sollte. Ich hatte Sie gebeten, zu mir zu kommen und mit mir dem Inhalt des Expeditionsberichts nachzugehen. Sie fand die Idee gut, aber als sie Deinen Vater davon informierte, war er sofort dagegen. Er sagte, dass sie in Hamburg in seiner Firma gebraucht wird. Nachdem Conchita ihm unser Vorhaben geschildert hatte, bezeichnete er das als Blödsinn und damit war das Thema für ihn erledigt. Conchita und ich versuchten ihn zu überzeugen, doch er ließ keine Diskussion zu. Er war sehr aufgebracht und wollte nichts mehr davon hören. Ich weiß auch nicht, warum er so stark reagierte, vielleicht lag es ja daran, dass er genau wie die katholische Kirche damals als tief katholischer Mensch mit dem Inhalt nicht umgehen konnte. Danach brach er den Kontakt zu mir ab und hatte mir ausdrücklich verboten, mit Dir Kontakt aufzunehmen. Der Tod meines Vaters hatte mich schon sehr mitgenommen, und dies hatte mich noch zusätzlich belastet. Ich habe eine Zeit gebraucht um das alles zu verarbeiten. Später war ich beruflich sehr eingespannt, sodass ich den Expeditionsbericht irgendwie vergessen hatte. Als ich dann auch noch Probleme mit meinem Herzen bekam, waren meine Gedanken ganz woanders. Erst als sich meine Herzbeschwerden vor ca. einem Monat verschlimmerten, habe ich über vieles nachgedacht und mir fiel der Expeditionsbericht wieder ein. Ich wollte nicht, dass er in Vergessenheit gerät. Daher habe ich beschlossen, ihn auf Deutsch zu übersetzten, in meinem Haus aufzubewahren und Dir zu vererben. Wie Du inzwischen wahrscheinlich weißt, war ich Englischlehrerin in Mérida. Als Conchita damals nach Hamburg gezogen war und Deinen Vater geheiratet hatte, hatte ich beschlossen, Deutsch zu lernen. Es hat mir viel Spaß gemacht und klappte auch ganz gut. Ich wollte mich mit Deiner Familie in Hamburg unterhalten können, falls ich euch oder ihr mich besuchen solltet. Wie Du Dich wahrscheinlich erinnerst, hatten wir ja noch Kontakt als Du ein Teenager warst. Unsere Telefonate und Briefe waren auf Deutsch. Leider hat sich meine Krankheit sehr schnell verschlimmert, sodass ich erst ca. die Hälfte des Expeditionsberichts übersetzten konnte. Ich habe meinen Nachbarn und sehr guten Freund Pedro Ramirez gebeten, den Bericht weiter zu übersetzen. Pedro beherrscht die Deutsche Sprache auch recht gut. Vor ein paar Jahren hatte er mich gebeten, ihm Deutsch beizubringen. Er ist auch sehr sprachbegabt. Ich schreibe diesen Brief im Krankenhaus, und ich glaube, ich werde nicht mehr die Gelegenheit haben, Dir den Expeditionsbericht persönlich zu überreichen. Daher habe ich dies in mein Testament mit aufgenommen. Du bist der letzte Hernandez. Deswegen möchte ich, dass Du den Expeditionsbericht bekommst. Lies ihn und entscheide, was Du damit machst. Ich glaube, dass sich dahinter eine sehr wichtige Geschichte verbirgt, die aufgedeckt werden muss. Ich hatte leider nicht die Zeit und die Kraft dazu.
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