Blinker hatte wirklich keine Ahnung. Hieronymus bindet sich den zweiten Schuh zu, wobei er sich unter das Glastischchen bücken muss. - «Daraus könnte schon was werden, Horst. Ich würde es an deiner Stelle machen, wenn du kannst.» - «Ich würde es machen, wenn du kannst! Das ist wieder mal original Halbeisen. Mann, du sollst es machen, du! Nicht ich. Also, wenn du Bedenkzeit brauchst, so geht das in Ordnung. Doch überlege nicht zu lange. Die Sache eilt, und du kannst dir vorstellen, dass es in Berlin nicht wenige gibt, die für den genannten Betrag sich ein verdammt gutes Drehbuch aus den Fingern saugen würden.»
Hieronymus unterdrückt seinen Seufzer nicht gänzlich. Dabei greift er sich seinen bereits gepackten Reisekoffer und macht Anstalten, sich zu verabschieden. Mit gedrückter Stimme schiebt er die erwartete Erklärung doch noch nach: «Wie oft muss ich eigentlich wiederholen, dass alles, was mit der Filmerei zu tun hat, für mich passé ist!»
Blinker schreitet eilig hinter die Theke zu seiner schicken Sanfreddo- Espressomaschine, die in ihrem Chromgefunkel eine Zierde für jede mittelgrosse italienische Bar abgeben würde. Er will einfach nicht gehört haben, was er einmal mehr von Hieronymus vernommen hat. Denn so etwas kann nur ein vorübergehend Verwirrter sagen. - «Ich weiss ja nicht, wo du deine Kohle hernimmst, und es geht mich auch nichts an. Nur, falscher Stolz ist hier wirklich fehl am Platze. Verstehst du denn nicht, dass das eine Supergelegenheit ist, lustvoll dreissig Riesen abzuräumen. So wie ich dich kenne, bin ich mir sicher, dass dir das Spass machen würde. - Ich will dir doch nur helfen, Mann!»
Als Blinker bei der Kaffeemaschine steht, nutzt Halbeisen die Gelegenheit, Blinkers Mitarbeiter, den Kamera- und den Tonmann, zu beobachten. Sie sind damit beschäftigt, den Inhalt der eingetroffenen Kartons zu begutachten: eine professionelle HD-Kamera für gehobene Ansprüche, dazu Akkus, Aufladegerät, Mikros mit Tonangeln, drei Stative für verschiedene Zwecke, der ganze Kram eben. Nun durchquert Blinker den Raum mit zwei schwappenden Latte machiatos in den Händen. Der eine seiner Kumpels hat die neue Kamera bereits am Auge. Der andere trägt ihm ein Kabel hinterher. Halbeisen ignoriert die ihm hingestreckte Tasse, zieht vielmehr Blinker aus dem Gefahrenkreis.
«Pass auf, du weisst doch, ein wandelnder Kameramann ist praktisch blind. Es wird eng hier. Es ist besser, ich verzieh mich jetzt mal.» - «Und der Kaffee?» - «Entschuldige, aber mir ist schon ohne schlecht.» - Blinker schnauzt verärgert seine Leute an: «Musste das jetzt sein!? Wieso geht ihr nicht hinten herum. Platz genug hat es doch, verdammt noch mal.»
Hieronymus schliesst Blinker in die Arme. «Mach's gut, und nochmals, vielen Dank für deine Gastfreundschaft. Und alles Gute für den Dreh in Finnland. Oder seid ihr zuerst in Hebron?» - «Nein, Finnland ist schon richtig. Und wenn du wieder mal Lust auf Berlin hast, anytime. Es war anregend wie immer, mit dir zu philosophieren. Und vergiss mein Angebot nicht. Ich höre von dir!»
Draussen rollt bereits ein doppelstöckiger Stadtbus in die Haltebucht. Hieronymus beeilt sich, wuchtet den schweren Koffer in den Bus und nickt zum Abschied Blinker zu, der vor der offenen Haustür steht und das Anrollen abwartet, um nach finalem Handgruss wieder ins Innere des Hauses zu verschwinden. Während der Bus in Bewegung gerät, denkt Hieronymus bei sich: «Ihn in die Schweiz einzuladen habe ich mir gerade noch verkneifen können. Kommt eh nicht. Bringt ja nichts.»
In wenigen Tagen wird sich Blinker gezwungen sehen, in die Schweiz aufzubrechen. Doch damit hatte Halbeisen recht behalten: er kam nicht, um ihn zu besuchen.
Auf der Freiluftterrasse der deutschen Film- und Fernsehakademie, der dffb am Potsdamer Platz, ganz oben, sitzt man zwischen Himmel und Erde bestens aufgehoben. Der Berliner Himmel blinkt gerastert durch die geschwungenen Verstrebungen des Glaszeltdaches, sechs Stockwerke weiter unten belastet schwarz-weiss parkettierter Marmor den kreisrunden Fussboden. Dazwischen ist Bauraum für die Videowelt: Geschäftsräume von Sony-Film, das deutsche Filmmuseum und das Filmarchiv, mehrere Kinos, Presseagenturen, die Filmhochschule und die Büros der Berlinale.
Und wenn man Glück hat, entdeckt man, den Blick aufwärts gerichtet, die Putzequipe, welche sich aussen ans steile Dach gehängt hat und, durch Kletterseile miteinander vernetzt, mit nachgehakelten Wassereimern sich langsam der Zeltspitze aus Kunstglas nähert. Sie wird sie vor Arbeitsschluss um siebzehn Uhr sicherlich erreichen.

Doch fällt, der natürlichen Trägheit folgend, der Blick von hier oben leichter abwärts in die Tiefe. Hinunter in das Menschengewimmel, deren ameisenkleinen Einzelwesen ihre rätselhaft vorbestimmten Wege um das Mittelbassin ziehen, das von Seitenfontänen im Sparbetrieb müde und vollkommen unhörbar beplätschert wird.

Um fünfzehn Uhr sitzen an diesem exklusiven Ort vor ihren Capuccinos der Leiter der dffb Otto Ledermann und die französische Regisseurin Isabelle Montclaire auf zwei Alustapelstühlen. Das hölzerne Tischchen zwischen ihnen war vom Innenarchitekten einem Gartenmobiliarkatalog entnommen und in luftige Höhen hinauf beordert worden. Das Glasdach hat die Luft aufgeheizt und Herr Ledermann schwitzt. Der Pool im Erdgeschoss ist weit entfernt, die Empfindung einer nassen Erfrischung hochgradig virtuell. Zudem fehlt es an farbigen Sonnenschirmen, Blumenbeeten und, was Ledermann betrifft, an einem Grillstand. Madame Montclaire hingegen ist Vegetarierin und an sie richtet Herr Ledermann nun das Wort.
«Nicht nur für die dffb ist es wichtig, dass Sie hier sind, Madame. Es ist auch wichtig für die Berlinale und für den deutschen Film insgesamt. Für mich sind Sie d i e Perle des europäischen Autorenfilms. Gut, einige meiner Kollegen behaupten, es gäbe den guten europäischen Autorenfilm nicht mehr. Aber das ist ihre Theorie, die mich nicht interessiert, denn solange es in der Praxis heisst: Ein Film von Isabelle Montclaire oder Otto Ledermann, solange haben die Filme erkennbare Autoren und Urheber, und
dementsprechend gibt es auch Autorenfilme, Ende der Diskussion. Sie sehen das doch auch so?» - «Cher Monsieur Ledermann, Sie werden verstehen, dass ich nicht kann sehen, warum Sie mit mir sprechen wollen. Naturellement wir können sprechen über die Idee von Autor, der seine seelische und mentale Ebene reflektiert in die Film und über sein sozial Bedeutung, und über die Macht von Traumdroge Hollywood, über alles, was Sie wollen, nur ich muss vorher wissen, warum wir sitzen hier.»
«Sie haben völlig recht, Madame. Zuerst wollte ich einfach zum Ausdruck bringen, dass die Berliner Filmhochschule es sehr schätzt, Sie zu ihren Dozenten zählen zu dürfen.» - «Mais c‘est assez claire, Sie wollten mich ja haben für die Kurse!» - «Und dann habe ich zum Ausdruck gebracht, dass diese Tatsache für die Filmlandschaft Deutschlands als solche wichtig ist. Ich hoffe, dass sich ein Weg finden lässt, wie Sie in den kommenden Jahren als Jurymitglied der Berlinale noch stärker als bisher in Berlin präsent sein können. Und, wenn es nach mir ginge, auch als Jurypräsidentin. Somit ist es sinnvoll, dass alles, worauf sich die Presse stürzen wird, mit ihrer Dozententätigkeit an der Berliner dffb in Verbindung gebracht werden kann. Dann erhalten sie gewissermassen einen Heimbonus. Nur sollten wir uns über die Zeitperspektive verabreden, die sie uns gewähren können, damit wir aufgrund einer konsolidierten Kontinuität unsere verschiedene Vorhaben in Ruhe umsetzen können.»
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