1 ...7 8 9 11 12 13 ...31 Wenig später, in einem ganz gewöhnlichen Stadtpark, neben einer Treppenkante, woran Skaterkids während der Flugphase ihre scheppernden Untersätze unter sich in neue Richtungen biegen, durchfährt ihn aus heiterem Himmel ein Freudenschreck, ein leuchtendes Erstaunen, das in nichts anderem als in einer unbekannt verstärkten Wahrnehmung seiner eigenen Identität besteht.
Ohne erkennbare Vorankündigung hat sie sich eingestellt. Um Halbeisen herum wird alles bunt und leer. Und was er beobachtend zu fokussieren sucht, entfernt sich mit schneidender Überdeutlichkeit. Nichts hat mehr mit ihm zu tun. Mädchen dreschen mit ihren Schlägern auf schlappe Federbälle ein, die um so stärker während des Fluges abbremsen, als die jungen Weiber ihnen Gewalt antun. Türkische Familien stellen im Schatten morgenländischer Platanen, mit Weglassung der stillenden Mütter, das Familienidyll der französischen Impressionisten nach. Alles verschmilzt in der inszenierten Choreographie eines müssiggängerischen Nachmittags. Die Räume zwischen den ausladenden Baumgruppen wie die Zeit, die zwischen Halbeisens fragenden Atemzügen verinnt, durchdringen ihn mit ein und demselben Geschmack eines ewigen, unbemerkt stillen Wandels. Derselbe Geschmack durchdringt das regungslose Liebespaar, das Mund auf Mund in selbstinduzierter Trance auf der Wiese lagert.
Und dies alles nur, weil Ich mich ihm in seinen Gedanken zugewandt habe. Seinem Denken habe ich den weitesten Atem eingeflösst, zu dem mein Mensch in der Lage ist. Das lässt ihn nun für einige Augenblicke die dröhnende Symphonie der Geistesstille vernehmen. Noch antwortet er mir nicht, denn er hat den Komponisten, in dem er selber lebt, noch nicht kennengelernt. Er glaubt, dass der Geist nur ein Ereignis in seiner Seele sei. Ich werde versuchen, ihn wach zu rütteln, damit er mit uns Unsichtbaren Beziehung aufnimmt. Er selbst will es und so vollziehe Ich nur seinen ihm unbewussten Willen.
Halbeisen weicht allem banal Gegenständlichen aus und schreitet mittendurch der Spree zu, die er in einer Mulde hinter dem schnurgerade verlaufenden Grashügel erahnt. Am Wasser setzt er den Koffer ab, geht in die Knie und spürt das Prickeln seiner entlasteten Hände wie eine ausserleibliche Wahrnehmung. Im Raum hinter ihm hängt eine sonntägliche Jubelblase im Geäst, lassen menschliche Schreie, Redefetzen und das Gelächter von Menschen jeden Alters und jedwelcher Herkunft die Luft der Parkanlage erzittern. Der nun wieder einsetzende Lärm stört nicht, er entrückt Halbeisen wie der Anblick eines indigowogend unbegrenzten Meeres hinter der Wiese mit den grell flimmernden Körpern eines überfüllten Schwimmbades.
Halbeisen setzt sich, Halbeisen legt sich hin, in Halbeisen bauscht sich die Gegenwart eines unaufhörlich verrinnenden und sich neu füllenden Lebens. Halbeisen fühlt, wie wenn zwischen den Bewohnern dieses Stadtparkes sich sein Lebensfaden entrollen würde. Und der ins Taumeln geratene Kämpfer, der er ist, ragt in monumentaler Selbstempfindung als Spulenkern eines leeren Bewusstseins auf. Was kann denn jetzt noch geschehen? Inmitten seines hinschwindenden Lebens, nach all den Hoffnungen und Überwindungen, nach den kleinen Erfolgen und den grossen Enttäuschungen, ist er am Ufer eines technisch domestizierten Wasserweges gestrandet und bemerkt, wie die schrägen Sonnenstrahlen das Dunkelgrün des vom Kunstdünger gepeitschten Rasens entzünden und das Graublau der Spree vor ihm zu einem glasigen Spiegel aufschmelzen.
Es ist, als sässe er am heiligen Ganges und vernähme in Benares die Reden des Buddha, die von der Einsicht in das vierfache Anhangen, den achtgliedrigen Pfad und von der Seelenblindheit handeln, von dem Anhaften an die sinnlichen Gebilde, welche den Geist verdrängen. Er vernimmt des Erleuchteten Lehre des rechten Vorstellens, des rechten Entschliessens, der rechten Rede, des rechten Handelns, des rechtgeführten Lebens, des rechten Strebens, des rechten Lernens, der rechten Versenkung, die alle zusammen in der Befreiung vom Rad der Wiedergeburt ihren Sinn und Zweck finden.
Bald danach tritt auf Halbeisens Bewusstseinsbühne, als kosmischer Kontrapunkt zur Lehre Buddhas, der unerhörte Anspruch des aramäischen Heiligen auf - oder war es wirklich sein ernst gemeintes Angebot? -, das er der Menschenmenge in Palästina zurief und das sich zwei Jahrtausende später für Halbeisens Gedankengehör wiederholt: «Wer durstig ist, der komme zu mir und trinke. Wer sich mit meiner Kraft erfüllt, von dessen Leib sollen Ströme vom Wasser des Lebens ausgehen. Und: «Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht im Finstern wandeln.» - «Ich bin die Tür, durch die ihr zur väterlichen Gottheit gelangt.»
Halbeisen hat es die Fähigkeit des Nachdenkens verschlagen. Er verschmilzt indessen mit dem unverwechselbaren Ton, der in jedem der religiösen Urkunden ihren Urheber offenbart. Er sucht sich in den Kehlkopf jener an die Ewigkeit gerichteten Wortmeldungen zu verwandeln, um sie dabei zu überprüfen. Er hegt keinen Zweifel, dass ihm alles zu prüfen auferlegt und möglich sei. Er erlebt die Weisheit Buddhas und empfindet in ihr die Gewitterstürme und Erdbeben zerberstender Kontinente wie auch das sehnsuchtvolle, ätherische Fächeln befiederter Devas, die als Schmetterlinge Brahmas den noch verschlossenen Duft zukünftiger Welten ins Da-sein locken.
Halbeisen lebt, irdischen Bezüglichkeiten gänzlich entrückt, in einem Raum zeitloser Gegenwart. Sorglos aufgehoben inmitten thronender Gewalten und lichtstrahlender Weisheitsträger, deren Füsse sich in Wolken hüllen und deren Stirnen, bevor sie sich zu Merkurs geflügelten Meteoren ballen, Weltgedanken in Form tätiger Lebewesen entquellen. Jeden einzelnen dieser Gedanken schaut er als einen in der Unergründlichkeit seiner Herkunft wurzelnden Kraftsamen, der sich seiner unendlichen Zukunft öffnet. Und alle Samen lodern im Geistesfeuer Brahmas. Der Funkenregen fällt sprühend in die Lebensläufe der Geistessucher wie der Verkommenen. Er entfacht in den träumenden Gefühlen die Weisheit aus-gleichender Gerechtigkeit. Im Dunkel der Instinkte lässt er das Stöhnen finsterer Asuras ertönen. Das Steigen und Sinken zahlloser Seelen schaut Hieronymus, schwimmend im Ring des Mondes, den der Himmel um die Erde legt.
«Was ist nun mit deiner Seligkeit, oh grosser Buddha, und was kostet uns dein Nirvana? Seit langem sprichst du nicht mehr zu irdischen Seelen. Das, was du für dich ersehnt hast, ist dir gelungen und du hast dich für immer aus dem Dunstkreis der Erde befreit. Doch da ist noch immer deine Lehre, im Osten konserviert und im Westen reanimiert. Zu Nutzen und Frommen all derjenigen, denen das Kreuz Widerwille einflösst. Was hat es denn für eine Bewandtnis mit dem Kreuz, das jeder auf sich nehmen soll? Wann geschieht dies? Macht das nicht jeder ohnehin? Müsste man sich hierfür frei entscheiden?
Hieronymus Halbeisen möchte jetzt liebend gern den aramäischen Heiligen selbst befragen, wieso das Kreuz das Zeichen für die geistige Wiedergeburt sein soll. Wo wir doch alle darauf aus sind, uns die Kreuze dieser Welt von den Schultern zu nehmen? Ist nicht am Kreuz zu hängen das grösste Unglück, das man sich denken kann? Und diesem Unglück soll ein geistiges Erwachen entspringen? Oder liegt in der Entscheidung, sein Kreuz zu tragen, was auch immer das heissen mag, das wahre Glück? Und Glück käme ohne subjektives Wohlbefinden aus? Könnte ich, während ich leide, objektiv im Glück sein? Muss ich schizophren werden, um ein Christ zu sein? Der Hauptertrag menschlichen Lebens läge allein in der Zunahme von Erkenntnis, in der Erprobung der Geduld und in der Stärkung des Vertrauens? Und das unzerstörbare Glück wäre der dabei errungene Geistesfrieden? Und der Tod, in dem er sich zu bewähren hat, wäre sein Preis? Bilden sich dies nicht auch die Dschihad-Kämpfer ein? Nein? - Auf das unbemerkt einsame Sterben käme es an. Nicht im Kampf gegen eingebildete Feinde, sondern sich selbst abzusterben?»
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