Was der Unendlichkeit keinen Abbruch tun würde, denn ich würde mal denken, dass die unendlich grosse Schuhschachtel und die unendlich grosse Kugel ein und dasselbe sind. Denn wenn weder eine unendlich grosse Kugel noch eine unendlich grosse Schuhschachtel ein Ausserhalb haben, weil sie dann nicht mehr unendlich wären, so kann es auch kein Innerhalb für unendlich grosse Kugeln und Schuhschachteln geben (davon abgesehen, dass es unsinnig ist, dabei den Plural zu verwenden). Doch definiert sich eine Schachtel durch ihr Inneres, die Kugel durch ihr Äusseres und was das logisch gesehen bedeutet, ist mir zu klären jetzt definitiv zu mühsam. Vielleicht auch, dass man Schuhe nicht in Kugeln aufbewahrt. Meine Gedanken sind astronomisch gesehen vermutlich unhaltbar. Und das aus einem Grunde, den ich nicht verstehe. Nicht absolut nicht verstehen kann, sondern nur im jetzigen Zustand der Todmüdigkeit."
Im dunklen Spreegras dort unten sträubte sich mit knirschendem Gehirn mein Hobbyphilosoph noch immer gegen den Schlaf. Vielleicht würde sich der Gaul seines Verstandes, wenn er denn meine Hilfe annehmen würde, ja doch noch in einen Pegasus verwandeln.
"Ich fasse zusammen: Jede gekrümmte und mit einem lokalisierten Zentrum versehene Kugeloberfläche muss einen weiteren Raum über oder neben sich oder wo auch immer zulassen. Also muss ich mir das unendliche Weltall zwingend ohne Zentrum und ohne gekrümmte Oberfläche vorstellen. Ein Universum, das seinen Namen verdient, muss somit eine ebene Fläche sein, die in keiner bestimmten Richtung liegen darf. Sonst wäre das Universum ruckzuck erneut in eine räumliche Schuhschachtel zurückgeschnurrt und dürfte wiederum nicht an der Unendlichkeit teilhaben und wir müssten wie die Menschen des Mittelalters uns erneut davor fürchten, dass unsere Raketen einmal das Himmelszelt durchstossen und die himmlischen Geister bei ihrer geheimnisvollen Tätigkeit überraschen. - Das war jetzt Quatsch, Hieronymus. Wenn du etwas Neues verstehen willst, musst du auf Witze verzichten."
Wenn Halbeisen für sich drauflos philosophiert, so führt er genau diese Art von Selbstgesprächen. Wenn er sich zuguterletzt selbst davon überzeugen kann, dass er durch seine zupackenden Begriffe die Erfahrung einer neuartigen Erkenntnis, einer noch nie zuvor gebildeten Vorstellung machen kann, so erlaubt er sich in gleichem Masse erleichtert wie erschöpft sich dem Schlafe hinzugeben. - "Ich wiederhole die Zusammenfassung: der kosmische Raum ist von einer unendlichen, ebenen Fläche begrenzt, die, weil sie in keiner bestimmten Richtung liegt, niemand je sehen, vermessen, noch sich wird vorstellen können, sondern von der ich nur solange etwas habe, als ich ihre Notwendigkeit denkend erfasse!"
Bevor Halbeisen noch die Anschlussfrage heranwehen fühlt: "Denken ohne vorzustellen, wie soll das gehen?" zieht er es vor, sich mitsamt seinen allerletzten Bewusstseinsregungen und dem erwähnten, wissenschaftlich noch ungesicherten Ertrag in den Schlaf zu entlassen.
«Inge, pass auf, wo du hintrittst!» - Jens ärgert sich, weil er seine lange, freibewegte Kameraeinstellung abbrechen muss. Inge ist ihm unverhofft mit ihrem VideoCamcorder, den sie auf einem Traggestell wie einen Bauchladen vor sich her trägt, frontal vor die Linse geraten. Gerade als er durch eine Drehtüre einer der unterirdischen Fussgängerschächte, die aus der U-Bahn ins Sony-Center hinaufführen, heraus gewirbelt kam. Er liebt es, nach einem gefilmten Durchmarsch durch einen dieser durchsichtigen Zylinder mit laufender Kamera noch ein oder zwei Pirouetten anzuschliessen. Der Zuschauer soll mit der bewegten Kamera mitgleiten, schweben, körperlos mittanzen.

So hat es sein dänischer Lehrer für Kamera in der dffb formuliert. Er hat den Absolventen der Regieklasse, zu denen Jens gehört, empfohlen, selbst einige Versuche zu unternehmen und nicht alles den Kameraleuten zu überlassen. Obwohl er selbst, Jesper Knupstribsen, nach der Fertigstellung eines Lars von Trier-Filmes gerade in diesem Punkt noch immer mit der dänischen Filmberühmtheit haderte. Als versierter Kameramann hatte er zwar auf der Gehaltliste der Filmproduktion gestanden, kam aber selten genug zum Einsatz, weil der Regisseur die wichtigsten Einstellungen, und das waren seiner Meinung nach so ziemlich alle, selbst drehen wollte. Immer hautnah an den Schauspielern und an den Schauspielerinnen noch näher dran. Auch mal zwischen, unter und über ihnen.
Jetzt doziert Knupstribsen, unglücklicherweise in einem Kurs, der Schüler aus der Regie- und der Kameraklasse vereinigt, dass die Schlüsselqualifikation für alle in der Filmbranche Tätigen die Fähigkeit visueller Phantasie und deren äusserliche Dramatisierung und Fixierung sei. Die klassischen Sparten wären in Auflösung begriffen, und für die Low-Budgetfilme, womit die meisten Absolventen der dffb in Zukunft zu tun haben würden, gelte dies in verstärktem Masse. Ein kreativer Regisseur könne den Kameramann in die subalterne Funktion des Schärfenziehers oder, wenn der Regisseur etwa auf Vollautomatik stehe, sogar in die Tonangelei treiben. Dagegen helfe nur, mit der schnellen Kamera besser als jeder Regisseur umgehen zu lernen. Den scharfen Wettbewerb hatte er bei dänischen Dogmaprojekten gelernt. Nur wer als der Beste gilt, bekommt die Kamera in die Hand.
Darauf haben sich Inge Stoll aus der Kameraklasse und Jens Brockmann aus der Regieklasse die letzten beiden Handycams der Schule mitsamt Tragekorsett ausgeliehen und sind im Gewühl des Sony-Komplexes auf Bildpirsch gegangen.

Inge hat in einem der Untergeschosse zuerst am architektonischen Modell des Sony-Hauses herumgefilmt und dabei Zoom-fahrten auf Details der Modellanlage mit fliegenden Kamerabewegungen verbunden. Danach ist sie vom Modell ins reale Sonygebäude aufgestiegen, um dieselben Ansichten im Echtraum einzufangen. Dabei setzt sie auf die Irritation des unvermittelten Aufpralls von virtuell und reell. Zuerst versucht sie, die spiegelnden Reflexionen an der Vitrine des Plexiglasmodells zu vermeiden, wozu sie zwei Handlampen und eine auf das Vitrinenglas gelegte Styroporplatte einsetzt. Dann geht ihr Interesse dahin, das echte Gebäude hochartifiziell erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck muss sie schnell handeln, wenn sie die seltenen Momente der Abwesenheit störender menschlicher Wesen nutzen will.
Jens, der Regieschüler, verfolgt keine optischen Spielereien, wie er die Ambitionen von Inge nennt, sondern nimmt das pralle Leben ins Visier. Er schwimmt ganz einfach solange in den Menschenmassen mit, bis sich irgend etwas ereignet, was den Anknüpfungspunkt für eine kleine Geschichte abgeben könnte, weshalb er mit seiner Handkamera "aus dem Bauch heraus" auf kleinste Regungen unnormierten Lebens reagiert. Gelegentlich verzieht er sich ins Billy Wilder Café, wobei er die Kamera wie einen tiefsitzenden Colt aus abwärts ausgestreckter Hand in Betrieb nimmt, denn niemand soll Notiz davon nehmen, dass gefilmt wird. Oder er fährt mit einem der vielen Grossraumlifts auf und ab, das Objektiv durch die gläserne Wand hindurch in die benachbarte parallel mitschwebende oder die eigene Fahrt kreuzende Kabine gerichtet. Da muss doch irgendwann mal eine Interaktion erkennbar werden, die als Ansatz für eine wenn auch noch so klitzekleine Story taugen könnte! Jens weiss aus den Erfahrungen der Tierfilmer, wie lange diese vor Aquarien oder Erdhöhlen ausharren, wenn sie Zeugen des Zusammenbruchs eines gleichgültigen Einerleis werden wollen.
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