In Neferusi, nicht weit von Chemenu entfernt, blieb der Vormarsch stecken. Die zu einem Fort ausgebaute Stadt widerstand dem Ansturm von Seqen-en-Res Truppen. Niemand, nicht einmal Pharao, wollte Abstand von den eigenen Siegesphantasien nehmen und glaubte an eine lediglich kurzfristige Verzögerung. Doch die Tage vergingen, ohne dass den Verteidigern Neferusis beizukommen war. Seqen-en-Re, zu dessen Plan es unbedingt gehörte, schnell vorzudringen, beging schließlich einen nicht wieder gut zu machenden Fehler: Er teilte seine Armee auf. Schweren Herzens ließ er die Streitwagen unter dem Befehl seines Bruders Ka-mose vor Neferusi zurück, damit die Stadt endlich vom Angesicht der Erde getilgt werde. Mehr als einmal schärfte Pharao seinem Bruder ein, dass er auf ihn zählte, müsse doch unbedingt vermieden werden, dass Neferusi ihm in den Rücken fallen konnte, während er weiter flussabwärts zog. In Menat-Chufu schlug Seqen-en-Re abermals erbitterter Widerstand entgegen. Hier ließ er fünf Schiffe mit nahezu tausend Mann Besatzung zurück, um sich nicht aufhalten zu lassen.
In der Stadt Hut-nesu – deren Name, einem bösen Omen gleich, Haus des Königs bedeutete – war das Ende des Vorstoßes gekommen. Denn dort erwartete Apopi seinen Widersacher mit einer schlagkräftigen Streitmacht. Als der Bote kam, um diese Nachricht zu hinterbringen, beschlichen Ah-hotep die schlimmsten Befürchtungen. Das Volk jubelte jedoch nach wie vor, glaubte es doch fest daran, dass Apopi gestellt und dies sein unausweichliches Ende wäre. Selbst die Beamten konnten nicht von ihren liebgewordenen Träumen von einem grandiosen Sieg lassen und beruhigten einander damit, dass Seqen-en-Re der Starke schon einen Ausweg finden werde, um auch diese Auseinandersetzung für sich zu entscheiden.
„Wie bislang jede Auseinandersetzung“, entzückten sie sich. „Eilt Pharao Seqen-en-Re Qeni doch von Sieg zu Sieg!“
Ah-hotep mied die Maulhelden, die sich mit ihren Einschätzungen und Vorhersagen zu übertreffen suchten, ohne auch nur den geringsten Gedanken daran zu verschwenden, dass es auch einen weniger günstigen Ausgang geben könnte. Noch waren Neferusi und Menat-Chufu nicht gefallen und ihr Widerstand nicht gebrochen. Doch jeder wischte die Bedenken fort, wie eine lästige Fliege. Nein, wer nicht an einen Sieg glaubte ‑ so die allgemeine Stimmung im Lande ‑, war ein Volksverräter, ein Defätist, einer, der den eigenen Leuten in den Rücken fiel.
Apopi, hinter den dicken Mauern von Hut-nesu, tat das, womit er schon einmal gegenüber Seqen-en-Re Erfolg gehabt hatte: Er provozierte ihn. Apopi ließ sich einfach nicht blicken, als ob er die Belagerer vor seinem Haus schlichtweg ignorierte. Jeden Morgen kam Seqen-en-Re nun in seinem Streitwagen vor die Mauern von Hut-nesu gefahren und schrie sich die Seele aus dem Leib, dass der Feigling sich doch endlich blicken lassen solle. Er würde ihm den Leib aufschlitzen, damit seine Gedärme in der Sonne verdorrten und sein Kadaver von den Geiern gefressen werden konnte. Doch nichts rührte sich.
Am dritten Tag – Apopi hatte es vorhergesehen – kam Seqen-en-Re direkt vor das Haupttor der Stadt gefahren, um mit seinen üblichen Pöbeleien anzuheben. Plötzlich wurde das Tor aufgestoßen und aus einigen in der Nacht ausgehobenen und abgedeckten Gruben vor den Mauern stürmte ein Dutzend Soldaten der königlichen Garde und bugsierte den vollkommen überraschten und wild um sich schlagenden Seqen-en-Re samt seinem Streitwagen durch das Stadttor, das augenblicklich wieder hinter ihnen geschlossen wurde. Bis seine Soldaten verstanden hatten, was überhaupt geschehen war und ihm schließlich zur Hilfe eilen konnten, war Pharao Seqen-en-Re schon längst hinter den mächtigen Mauern Hut-nesus verschwunden. Seine Truppen unternahmen sogleich einen Sturmangriff, wurden aber, bevor sie die Mauern erreichten, von Apopis Bogenschützen dezimiert. Das Heer aus dem Süden war führerlos und ‑ weitaus schlimmer noch ‑ Pharao Seqen-en-Re Ah-mose war in den Händen seiner Feinde.
Noch am selben Tag ließ Apopi seinen Thron auf dem größten Platz der Stadt vor dem Tempel des Seth aufstellen, um dort, vor den Augen des versammelten Volkes sowie des Adels, sein Urteil über den abtrünnigen Vasallen zu fällen. Jeder sollte sehen können, was mit Verrätern geschah, die sich gegen Pharao Apopi auflehnten. Mit auf den Rücken gebundenen Händen musste der Angeklagte vor seinem Richter im Staub niederknien. Schon allein dies war eine Erniedrigung, die Seqen-en-Re kaum ertrug. Jede einzelne seiner Verfehlungen wurde aufgezählt: Die Missachtung der Aufforderung, seine in aller Heimlichkeit ausgebildeten Truppen aufzulösen. Die abermalige Missachtung der Aufforderung, seine Truppen dem Oberbefehl seines Lehnsherrn zu unterstellen, mit der sein Lehnsherr Pharao Apopi ‑ dem Leben, Wohlstand und Gesundheit zuteil werden möge ‑ seine große Geduld unter Beweis gestellt hatte. Die Ermordung des Boten seines Lehnsherrn, der ein hochgeehrter Priester des Seth war. Die ungerechtfertige Besetzung der Städte Sauti und Qus. Wobei er sich im letzteren Fall auch noch wegen der Behinderung der königlichen Karawanenwege verantworten musste, die dem Land nachhaltigen Schaden zugefügt hatten. Der dreiste Überfall auf die Stadt Chemenu, bei dem 847 loyale Krieger ihr Leben lassen mussten. Die Belagerungen der Städte Neferusi und Menat-Chufu, die noch immer andauerten. Und schließlich die Belagerung von Hut-nesu, bei der er gefangen genommen und zur Verantwortung gezogen werden konnte.
Die Zuschauer jubelten, weil man einen derart üblen Verbrecher endlich zur Rechenschaft ziehen würde. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass der Angeklagte in allen Punkten schuldig war und somit sein Leben verwirkt hatte. Wie alle Verräter und Feinde würde er mit dem steinernen Streitkolben niedergestreckt und dadurch vom Leben zum Tode befördert werden. Das Todesurteil war augenblicklich zu vollstrecken. Pharao Apopi Neb-chepesch-Re ‑ Apopi, der Herr mit großer Schlagkraft wie Re – würde nach alter Vorväter Sitte die Hinrichtung höchstselbst vollziehen. Dem Delinquenten wurde ob der Eindeutigkeit seiner Verfehlungen das Recht des letzten Wortes verweigert.
Apopi baute sich vor dem knienden Seqen-en-Re auf und hielt den bald tausend Jahre alten Streitkolben in Händen, mit dem bereits Pharao Chufu zahllose Verräter hingerichtet hatte. Die Zuschauer hielten den Atem an.
„Freiheit für Kemet!“, konnte Sequen-en-Re Ah-mose gerade noch rufen. „Fort mit den Herrschern der Fremdlän …“
Die Zuschauer schrieen auf.
Der Streitkolben hatte die linke Seite von Seqen-en-Res Gesicht zerschmettert. Obwohl der Schlag mit aller Kraft ausgeführt worden war und ihn grässlich entstellte, hielt sich Seqen-en-Re auf den Knien, bis ihm schließlich doch die Sinne schwanden und er vornüber kippte. Mit dem Gesicht nach unten blieb er im Staub liegen. Das Volk jubelte und schrie! Und obgleich keiner seiner Soldaten vor den Mauern von Hut-nesu die Hinrichtung mit angesehen hatte, wusste jeder von ihnen, was geschehen war: Pharao Seqen-en-Re der Starke war gefallen.
Auf Tage hinaus würde man den Toten auf dem Marktplatz liegen lassen, streunenden Hunden, Geiern und wildlaufenden Schweinen zum Fraß vorgeworfen, bis man ihn schließlich seinen führungslosen Truppen überreichen würde, damit sie ihn bestatteten. Denn immerhin ‑ das konnte selbst Apopi nicht außer Betracht lassen ‑, war der Tote königlichen Geblüts.
Am nächsten Morgen wurde Apopi, gleich als er geweckt wurde, davon in Kenntnis gesetzt, dass der Hingerichtete noch immer lebte. Apopi mochte es kaum glauben und ging im ersten Morgengrauen zum Marktplatz, um sich selbst davon zu überzeugen. Tatsächlich: Seqen-en-Re der Starke atmete noch. Der Hauptmann der Leibwache bot sich an, dem Sterbenden den Todesstoß zu versetzten. Doch Pharao Apopi zögerte. Vielleicht war dies ein Fingerzeig der Götter, grenzte es doch an ein Wunder, dass Seqen-en-Re noch immer Leben in sich hatte. Vielleicht war ein halbtoter Fürst noch von größerem Nutzen als ein toter, der den Thron nur für einen Nachfolger frei machte. Vielleicht war ein hilfloser Herrscher, dem es nicht vergönnt war zu sterben, nützlicher als ein toter Held, der sich im Kampf aufgeopfert hatte. War es doch zu erwarten, dass die Menschen Seqen-en-Re als Helden ansehen würden, alleine schon, weil er sich mit zerschmettertem Gesicht so lange auf den Knien hatte halten können …
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