Moritz schwieg.
»Also, kommst du mit?«, fragte sie ihn gleichmütig. »Ich will den Schleier, der über meine Vergangenheit hängt, lüften.«
»Warte doch wenigstens die Beerdigung ab. Du bist derzeit zu gefühlsbestimmt.«
»Die Verzögerungstaktik greift bei mir nicht.«
»Mal ehrlich, Cindy, was versprichst du dir davon? Du erfährst eventuell, dass deine leibliche Mutter eine Geistesgestörte war. Was dann?«
»Ein Grund mehr nachzuhaken. Schließlich beabsichtige ich, mal Kinder zu haben. Was erzähle ich denen, wenn sie mich fragen, wo ich geboren wurde und wer meine Eltern sind? Entgegne ich ihnen, dass ich das nicht weiß? Zumindest habe ich die Absicht dann zu erklären, dass ich alles unternommen habe es herauszubekommen. Aber ich bin zuversichtlich, dass ich im Dachsbau die Informationen bekomme, die ich suche.«
Er hasste es, wenn sie das Dickköpfige hervorkehrte.
»Außerdem«, fuhr Cindy fort, »hast du gegenüber Mutter im Krankenhaus für mich Partei ergriffen, so dass ich deine Zurückhaltung jetzt nicht verstehe.«
»Ich verhindere nur, dass Tatsachen ans Licht kommen, die dich belasten, die dir aber nicht weiterhelfen.«
»Was glaubst du, Kocke, wie mich das belastet eine Vergangenheit zu haben, die im Nebel liegt.«
Moritz kannte das. Sie von einem einmal getroffenen Vorhaben abzubringen, klappte bei ihr fast nie. Jedes Mal, wenn sie ihn bei seinem Kosenamen nannte, bestand sie grauenhaft energisch auf ihre Meinung.
Wenige Minuten später bog er in die Taubertstraße ein. Er hielt vor dem viergeschossigen Mietshaus mit der Nummer sechzehn. Hier hatte Cindy im Erdgeschoß eine Zweizimmer-Altbauwohnung.
Moritz sah seine, um eine Handbreit kleinere Freundin, schmunzelnd an. »Hast du noch die Flasche Chianti, die ich dir neulich mitgebracht habe?« Nachdem sie nickte, sprach er weiter. »Die leeren wir heute. Ich glaube, das haben wir uns beide verdient.« Er stellte den Motor ab. Dann küsste er sie zärtlich auf die Wange, ohne ihre feurig fordernden Pupillen nur eine einzige Sekunde aus den Augen zu lassen.
Die Bäume, vor dem Mietshaus Taubertstraße 16, verhinderten, dass das wärmende Sonnenlicht in die Wohnung im Erdgeschoß drang. Moritz hatte ebenfalls die letzte Nacht bei seiner Freundin verbracht. Etwas quälte ihn an diesem Montagmorgen. Er kannte die Ursache hierfür aber nicht. Anscheinend hatte der Tod von Cindys Adoptivmutter ihn äußerst mitgenommen.
Kurze Zeit später verließ er die Wohnung seiner Freundin. Er fuhr das Fahrzeug ein wenig umständlich aus der Parklücke. Dann schlug er die Richtung zum Polizeirevier ein. Der kleine karminrote Mittelklasse-Wagen, bog bald darauf auf den Parkplatz vom Polizei-Abschnitt 25 ein. Mal wieder war, im Grunde wie immer, keine Parklücke auszumachen. Die geringe Anzahl der Stellflächen verhinderte dies. Das Geld für eine Erweiterung fehlte. Wie vieles, das aus Geldmangel im Polizeirevier nicht angeschafft wurde.
Suchend hüpften seine Pupillen fieberhaft von einer Karosserie zur nächsten. Immer noch in der Hoffnung, eine schmale Stellfläche für das Gefährt zu ergattern. Da! Freudig bemerkte er eine Lücke in der blechernen Perlenkette. Im gleichen Augenblick schimpfte er jedoch über sich selber. Der Parkplatz vom Abschnittsleiter. Unmöglich dort den Wagen zu parken! Die Stirn legte sich in Falten. Der ist doch in Urlaub, überlegte er. Und in seiner Abwesenheit war es nicht erlaubt diese Parkbucht zu benutzen. Typisch. Es sei denn … Es sei denn, der Leiter Fünfundzwanzig , wie ihn die Mitarbeiter nannten, hatte es diesmal jemandem genehmigt, dort zu parken. Wer war in der Lage eine derartige Erlaubnis zu prüfen? Ihm fiel niemand ein.
Gleich darauf schoss das Fahrzeug in die freie Parklücke. Moritz wendete den Kopf nach allen Seiten. Nein, von den Diensträumen aus war sein Wagen nicht zu sehen. Mit eiligen Schritten begab er sich in sein Büro, in der zweiten Etage.
»Hallo, Theo.« Moritz hob kurz die rechte Hand zum Zeichen des Grußes.
Der Angesprochene erwiderte die Begrüßung beiläufig, ohne die Augen vom Schreibtisch zu heben. Kriminalhauptkommissar Theo Hansen stand kurz vor der Pensionierung. Das Arbeitsverhältnis empfand der eine wie der andere sachlich, trocken, sowie hilfsbereit. Zwischen beiden Männern lag eine Generation. Ein enormer Abstand. Die Methoden bei den Ermittlungsarbeiten waren zwangsläufig unterschiedlich. Hinzu kam, dass der Neunundfünfzigjährige die letzten fünfzehn Jahre nur im Innendienst zubrachte. Streitigkeiten, über die jeweilige Arbeitsweise des anderen, trugen sie früher in aller Heftigkeit aus. Heute akzeptierten sich die Männer. Nicht mehr, nicht weniger.
»Ist Chris noch nicht da, Theo?«
»Der holt sich gerade eine Portion Pommes.«
Moritz sah flüchtig auf seine Armbanduhr. Dann schüttelte er sich deutlich. »Der Junge hat eine Ernährungsweise.«
Mit einem leichten Quietschen öffnete sich die Bürotür. Ein weiterer Mitarbeiter des Morddezernats betrat den Raum.
»Hallo, Kocke.«
»Hallo, Rüdiger«, klang es gleichzeitig wie aus einem Munde.
Dann herrschte minutenlanges Schweigen. Jeder der Anwesenden blätterte scheinbar überaus interessiert in seiner Tageszeitung.
Wieder hallte das leise Quietschen der Bürotür durch den Raum. Da jeder im Büro annahm, das Chris mit seiner morgendlichen Portion Pommes frites hereinkam, machte sich niemand die Mühe aufzuschauen.
Es herrschte absolute Ruhe im Raum. Da jedoch nach dem leisen Quietschen, keine weiteren Geräusche ertönten, sah einer nach dem anderen, über den Rand seiner Zeitung, in Richtung Tür.
»Ich hoffe, ich störe nicht, meine Herren?« Die mit scharfem Unterton gesprochenen Worte, stammten aus dem Munde des Ersten Kriminalhauptkommissars.
Zügig, aber nicht überaus eilig falteten alle ihre Zeitung zusammen. Diese verschwanden sofort darauf, eine nach der anderen, in den Schubladen des jeweiligen Schreibtisches.
Dann bewegte sich der Erste Kriminalhauptkommissar, Horst Richter, mit gezielt langsamen Schritten, sowie auf den Rücken zusammengefalteten Händen, auf Theo Hansen zu. »Gratuliere zur Lösung des letzten Falles«, sprach er gleich darauf zu dem vor ihm Sitzenden.
Moritz kannte seinen Dienstherrn genau. Den folgenden Verlauf des Gesprächs vorherzusagen, war auch für seine Kollegen nicht schwierig. Der zuerst Angesprochene hatte kaum etwas zu befürchten. Den Mitarbeiter, auf den es sein Vorgesetzter abgesehen hatte, kam immer zum Schluss dran.
Dann wandte sich der Erste Kriminalhauptkommissar, mit einer ebenso belanglosen Gratulation, an Rüdiger Bachmann. Gleich darauf schritt er auf Moritz zu.
Ich also, überlegte er. Na, mal sehen, was er vorhat.
»Herr Wolff, leider gibt es keine Möglichkeit mich ebenfalls bei Ihnen für Ihren Einsatz zu bedanken. Warum ist das so, was meinen Sie? Arbeiten sie nicht konzentriert genug? Werden Sie am Arbeitsplatz abgelenkt oder lenken Sie sich gar selber ab? Wie ist Ihre Meinung hierzu?« Bei diesen Worten bohrten sich die Pupillen des Vorgesetzten durch das dicke Glas seiner Brille.
»Sie werden es mir gleich sagen, Herr Richter.« Moritz wurmte es jedes Mal, wenn der Andere auf diese Art anfing, ein Gespräch einzuleiten. Für ihn stand unmissverständlich fest: Bestimmt war etwas Schwerwiegendes vorgefallen. Sein Dienstherr erschien nur zu Arbeitsbeginn im Büro, wenn es hierfür einen gravierenden Grund gab.
Horst Richter stand noch immer, mit verschränkten Händen auf dem Rücken, vor Moritz. Hierbei sah er dem vor ihm Sitzenden, mit in Falten gelegter Stirn, sowie zusammengekniffenen Augen, mitleidig lächelnd an. Die, seiner Meinung nach freche Art und Weise, mit der ihm sein Mitarbeiter antwortete, gehörte sich nicht, fand er. »Herr Wolff«, bei diesen Worten lösten sich seine Hände vom Rücken, »nach meinem Dafürhalten sind Sie im Dezernat nicht voll ausgelastet …«
Читать дальше