In der Nacht fand Takeo nicht viel Schlaf. Er lag stundenlang wach und dachte darüber nach, was ihn am nächsten Tag erwarten würde. Erst weit nach Mitternacht schlief er ein. Viereinhalb Stunden später, als die Morgendämmerung hereinbrach, war er wieder hellwach. Auch der alte Mann war bereits auf den Beinen und hatte auf der Terrasse Tee und etwas Essen zubereitet. Takeo und Katsumi nahmen sich viel Zeit für ihr Frühstück. Die meditative Ruhe Katsumis übertrug sich zunehmend auf Takeo und dessen aufgeregte Spannung verwandelte sich mehr und mehr in Gelassenheit. Seine neugierige Erwartung blieb weiter bestehen, doch er spürte eine ruhevolle Gewissheit, dass am heutige Tag etwas geschehen würde, dass ihn weiterbrächte.
Nach dem Essen fragte Takeo neugierig: „Wie viele Samurai der Goldenen Schlange brachte Euer Durchgang hervor?“ „Bei uns waren es fünf, von denen drei im folgenden Jahr auch den zweiten Grad erhielten“, antwortete Katsumi. „Auch bei uns erlangten fünf Kämpfer den ersten Rang und es waren sogar vier, die in den zweiten Grad erhoben wurden. Dann wart Ihr am Anfang genauso gut wie wir, allerdings waren wir später die Besseren“, erwiderte Takeo mit einem schelmischen Grinsen und ergänzte: „Außerdem gab es bei uns eine Besonderheit, die es nie zuvor gegeben hatte. Sehr selten erreichte jemals ein Samurai den dritten Grad. Bei uns ist dies gleich zwei Kämpfern gelungen.“ Katsumi konterte schmunzelnd: „Du meinst also, noch nie hätten zwei Samurai gleichzeitig den dritten Grad erreicht? Und wenn ich Dir nun sage, dass es bei uns sogar drei geschafft haben?“ Das Grinsen auf Takeos Gesicht verschwand plötzlich und verwandelte sich in Erstaunen: „Wirklich? Bei Euch gab es drei Samurai der Goldenen Schlange im dritten Grad? Das ist wirklich beachtlich. Gestatte mir eine weitere Frage: Masaru und ich haben sogar den vierten Grad erlangt. Waren wir die Einzigen oder gab es auch bei Euch jemanden, dem das gelang?“
Katsumis Gesichtsausdruck wurde ernst, doch seine Stimme blieb ruhig und freundlich: „Alle drei sind in den vierten Grad erhoben worden.“ „Ist das wahr? Es gab bei Euch wirklich drei Unbesiegbare? So wie Du redest, hört es sich an, als wärest Du einer dieser drei. Stimmt das?“ Katsumi nickte nur und Takeo fuhr fort: „Yuudai sagte zu Masaru und mir, der vierte Grad sei nicht der höchste, den man erreichen könne. Kannst Du mir Näheres dazu sagen?“ Katsumi schwieg für einen Moment. Dann zog er seine Jacke aus. Takeo hatte einiges gesehen und gehört, das ihn in Erstaunen versetzte. Nun aber war er für mehrere Minuten sprachlos. Er zählte sieben tätowierte Schlangen auf Katsumis Arm.
Nachdem er sich einigermaßen gefasst hatte, fragte er mit zitternder Stimme: „Wie ist so etwas möglich? Sieben Schlangen … Ich habe mir viele Gedanken gemacht, was der fünfte Grad sein würde, falls es ihn gäbe. Welche Fähigkeiten könnte ich noch erlernen, die ich nicht schon besäße? Und nun erfahre ich, dass es sogar einen siebten Grad gibt. Das übersteigt all mein Vorstellungsvermögen. Ich gehöre als Samurai im vierten Grad doch bereits zu den Unbesiegbaren. Was kann größer sein als unbesiegbar?“ Katsumi sah Takeo tief in die Augen: „Unangreifbar ist mehr als unbesiegbar. Aber selbst das ist noch nicht das letzte Geheimnis.“ „Ich verstehe nicht, wovon Du sprichst“, erwiderte Takeo verwirrt. Katsumi erhob sich und sagte: „Was Du gleich sehen wirst, gibt Dir eine Vorstellung davon. Nimm Dein Schwert und komm mit zur Mitte der Terrasse!“
Takeo tat, wie der alte Mann ihn hieß und stellte sich mit seinem Schwert in Position. Katsumi sprach mit fester Stimme: „Gleich werde ich Dich auffordern, mich anzugreifen.“ „Nein Katsumi, das wäre ein ungleicher Kampf. Du magst früher ein besserer Kämpfer gewesen sein als ich. Aber Du bist inzwischen alt geworden und Deine Kräfte haben nachgelassen. Deine Kampfkunst mag hervorragend sein, doch mit meiner Schnelligkeit kannst Du nicht bestehen.“ „Du hast nichts zu bedenken, Takeo. Ich kann nicht von Dir besiegt werden und das hat nichts mit meinem Alter zu tun. Konzentrier Dich und stell Dir vor, ich wäre ein junger und starker Kämpfer und es ginge bei unserem Kampf um Leben und Tod! Nimm dieses Gefühl ganz in Dich auf. Wenn Du völlig davon durchdrungen bist, greif mich mit Deinem Schwert an!“
Anfänglich fiel es Takeo schwer, dieser Aufforderung Raum zu geben. Er wollte Katsumi auf keinen Fall verletzten. Doch dann vertraute er darauf, dass der alte Mann schon wusste, was er tat. Takeo schaltete alle Hemmungen aus und begab sich tief in das Gefühl, einen Kampf gegen einen starken Gegner zu führen, bei dem es um Leben und Tod ging.
Dann griff er Katsumi an. Doch so sehr Takeo sich auch bemühte, seinen Gegner zu treffen, es gelang ihm nicht. Katsumi wich seinen Schlägen entweder blitzschnell aus oder wehrte sie geschickt mit seinem Schild ab. Das alles tat er, ohne ein einziges Mal das Schwert zu benutzen. „Du siehst, es geht auch ohne Waffen“, rief Katsumi und legte sein Katana zur Seite. „Los Takeo, greif mich noch einmal an!“ Was Takeo auch unternahm, er hatte keine Möglichkeit, Katsumi auch nur annähernd gefährlich zu werden. Wieder sprach der alte Mann mit lautem Ton: „Um gegen Dich zu bestehen, benötige ich auch kein Schild.“ Er legte sein Schutzschild ebenfalls ab.
Was nun geschah, war schon fast eine Demütigung für Takeo. Katsumi wich auch weiterhin allen Schlägen Takeos aus und benötigte dafür keine Schutzmaßnahmen. Er musste sich dafür nicht einmal besonders anstrengen. Alles wirkte leicht und spielerisch. Takeo beendete seine Angriffe und sagte resignierend: „Ich weiß nicht, wie Du es machst, doch ich kann Dich einfach nicht treffen. Ich glaube, ich verstehe jetzt: Du zeigtest mir zuerst, wozu ein Samurai im fünften Grad in der Lage ist. Als Du Dein Schwert ablegtest, bekam ich einen Eindruck davon, welche Fähigkeiten ein Kämpfer im sechsten Grad besitzt. Zuletzt bist Du sogar ohne Schild meinen Schlägen ausgewichen. Das war wirklich meisterhaft und Du bist unangreifbar, wie Du vorhin sagtest. Das gab mir einen Einblick, was man im siebten Grad vermag.“
Katsumi kniff seine Augen leicht zusammen und sagte nun etwas Überraschendes: „Du irrst Dich, Takeo. Was Du gerade erlebt hast, hat nichts mit dem sechsten und dem siebten Grad zu tun. Das Ausweichen vor allen Angriffen hatten wir bereits gelernt, bevor uns Yuudai in den fünften Grad erhob.“
Nun war Takeo völlig verwirrt. Was er sah, hätte er niemals für möglich gehalten. Und es sollte sogar noch etwas Größeres geben? Er resignierte bei dem Versuch herauszufinden, was ihn erwartete. Nicht einmal ansatzweise konnte er es erahnen. Katsumi sprach Worte, die erhaben klangen: „Ich sehe, Du bist endlich offen für das große Geheimnis. Nun zeige ich Dir die Möglichkeiten, die sich im sechsten Grad eröffnen. Ich werde meine Augen schließen und nach kurzer Zeit meine rechte Hand erheben. Das soll das Zeichen für Deinen Angriff sein.“
Katsumi nahm einige tiefe Atemzüge. Mit geschlossenen Augen hob er seine Hand. Takeo griff ihn mit seinem Schwert an. Doch diesmal wich Katsumi nicht vor den Hieben aus. Obwohl das Schwert sehr gezielt auf den Kopf Katsumis zu schnellte, traf es eigenartigerweise nicht. Es verfehlte sein Ziel, als würde eine unsichtbare Kraft die Schläge in eine andere Richtung lenken. Takeo machte noch einige weitere Versuche, doch es war immer das Gleiche. Was war das? Magie? Zauberei? Takeo bekam ein Schaudern am ganzen Körper. Er fühlte sich, als würde er in eine andere Welt eintauchen.
„Kommen wir zum siebten Grad“, sagte Katsumi, während seine Augen auch weiterhin geschlossen blieben. „Wenn ich wieder meine Hand erhebe, sollst Du mich erneut angreifen.“ Katsumi gab das Zeichen. Takeo wollte gerade sein Schwert zum Angriff erheben und dabei seinen rechten Fuß einen Schritt nach vorne setzen. Doch was war das? Es war nicht möglich. So sehr er sich auch bemühte, er konnte weder seinen Arm erheben noch sein Bein bewegen. Wie erstarrt stand er da. Arme und Beine gehorchten seinen Befehlen nicht mehr. Er trat einen Schritt nach hinten, ging anschließend ein wenig zur Seite um dann erneut vorwärts zu gehen. Er tat zwei Schritte auf Katsumi zu und erstarrte erneut. Völlig gleich, von welcher Seite er sich Katsumi näherte, war er etwa drei Schritte von ihm entfernt, konnte er sich nicht weiter nach vorne bewegen. Ein unsichtbares Energiefeld zog sich wie ein Kreis um Katsumi und verhinderte, dass irgendetwas an ihn herankam.
Читать дальше