Nachdem auch Masaru sein Schwert in die Scheide geschoben hatte, begann er, was ihn bewegte, zum Ausdruck zu bringen: „Unser Kampf war sehr hart und einer von uns ist ebenso stark wie der andere. Meine Kräfte ließen mit der Zeit immer mehr nach und Dir ging es genauso. Was dann geschah kann ich mir nicht erklären. Es war, als würde meine Seele zusehen, wie mein Körper weiter kämpft. Ich spürte weder Anstrengungen noch Schmerzen, obwohl ich auch weiterhin mit meinem Schwert auf Dich einschlug und Deine Hiebe abwehrte. Dann sprach etwas zu mir, ein Kampf, der zur Vernichtung des anderen führe, sei der falsche Weg. Es war keine Stimme, die ich mit meinen Ohren vernahm. Ich bekam diese Worte direkt in meine Gedanken gesprochen. Gleichzeitig spürte ich einen großen Frieden, der meinen Geist reinigte. Ich habe keine Ahnung, wessen Stimme das war und ob sie sich innen oder außen befand. Aber nun weiß ich, dass wir keinen Sieger brauchen und niemand von uns sterben muss. Nicht nur einer allein ist zu Höherem bestimmt. Nein, wir beide haben eine besondere Berufung und können diese Welt verändern. Yuudai sagte, dass einer von uns noch in diesem Jahr eine große Entdeckung machen wird. Inzwischen verstehe ich, dass auch derjenige von uns, der dieses große Geheimnis nicht entdecken wird, dennoch ein Auserwählter ist. Ich weiß nicht, was geschehen wird, doch ich bin mir gewiss, dass jeder von uns seinen Weg gehen soll und dass etwas Großes auf uns wartet.“
Takeo hörte aufmerksam zu und sagte erleichtert: „Ich bin froh, diese Worte aus Deinem Mund zu hören. Mich bewegen ähnliche Gedanken und Gefühle, auch wenn diese nicht so klar und deutlich sind wie Deine. Jeder von uns gehe seinen Weg für sich selbst, um seine Antworten zu finden. Ich wünsche Dir, dass Du entdecken mögest, wonach Du suchst.“ „Ich danke Dir“, erwiderte Masaru. „Auch Dich begleiten meine guten Wünsche. Ich freue mich darauf, Dir irgendwann wieder zu begegnen. Doch sollte dieser Tag niemals kommen, dann beuge ich mich vor der Bestimmung, die größer ist, als wir selbst es sind. Leb wohl, mein Freund.“
Takeo dachte wochenlang über die vergangenen Ereignisse nach, vor allem über seinen Kampf gegen Masaru und das anschließende Gespräch. Nachts lag er oft stundenlang wach und immer wieder ging ihm das Erlebte durch den Kopf.
Eines Morgens machte Takeo einige Besorgungen im Nachbardorf. Unterwegs traf er Shigeru, einen Samurai der Goldenen Schlange im zweiten Grad, der gemeinsam mit Takeo ausgebildet wurde. Sie hatten sich über ein Jahr nicht mehr gesehen. Beide waren gespannt zu erfahren, wie es dem anderen inzwischen ergangen war. Irgendwann berichtete Shigeru von einem alten Mann, der in den Bergen lebt. Von einem Reisenden habe er gehört, dass dieser über eine Kampftechnik verfüge, wie sie sonst nur die Samurai der Goldenen Schlange besäßen. Wer dieser geheimnisvolle alte Mann wäre, darüber konnte er allerdings nichts in Erfahrung bringen. Takeo hörte aufmerksam zu. Sollte dieser alte Mann etwas mit den Antworten zu tun haben, die er suchte?
Takeo fasste einen Entschluss: Er wollte sich auf die Suche nach dem alten Mann in den Bergen machen. Möglicherweise würde es ein schwieriges Unterfangen werden. Es gab hier sehr viele Berge. Er hatte nicht einmal einen Anhaltspunkt, in welchem Gebiet sich dieser Mann aufhalten könnte. Sein Verstand sagte ihm, dass es unmöglich wäre, diesen Mann zu finden, doch sein Herz trieb ihn unaufhörlich, so schnell wie möglich aufzubrechen.
Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg. Wochenlang zog Takeo umher. Jeden, den er unterwegs traf, fragte er nach diesem alten Mann. Doch keiner konnte ihm etwas sagen, das ihn weiterbrachte. Eines Tages begegnete ihm ein eigenartig aussehender Mann. Er war Ende 60, trug einen langen Bart und war seltsam gekleidet. Takeo richtete an ihn die gleichen Fragen, die er allen anderen in den letzten Wochen gestellt hatte. Der Mann sprach in ruhigem Ton: „Komm mit mir! Ich werde Dir die Antworten auf Deine Fragen zeigen.“ Takeo zögerte zunächst, zeigte sich aber dann bereit, mit dem Mann mitzugehen. Vielleicht hatte dieser eigenartige Geselle ja tatsächlich einen wichtigen Hinweis für ihn. Falls nichts Brauchbares dabei herauskommen sollte, dann würde er einfach wieder gehen und woanders weitersuchen. Er hatte nichts zu verlieren, außer vielleicht die Zeit, die er einsetzte.
Beim Gehen fragte Takeo den Mann, was genau er ihm zeigen wolle. Doch der antwortete nur freundlich: „Gedulde Dich ein wenig! Noch vor Anbruch des Abends werden wir am Ziel sein. Morgen wirst Du sehen, wonach Du suchst.“ Takeo und der Mann gingen wortlos einen schmalen Bergpfad entlang. Nach einigen Stunden hatte Takeo großen Durst und wurde hungrig. Er wollte dem Mann gerade vorschlagen, sich auf die Suche nach Nahrung und etwas Trinkbaren zu machen. Da wandte sich dieser sich um: „Du bist durstig. Wir werden den Pfad verlassen. Hinter dieser Felsformation befindet sich eine Quelle.“ Er streckte seine Hand aus und zeigte schräg links nach vorne. „Was Deinen Hunger betrifft, so habe noch ein wenig Geduld. Es ist nicht mehr weit. Am Ziel gibt es genügend Vorräte.“ Takeo stieg hinter dem Mann einen Felsen hinauf. Von oben sah er die andere Seite hinunter und tatsächlich – vor ihm lag eine sprudelnde Quelle. Sie war von unten nicht zu sehen. Aus der Quelle entsprang ein kleiner Bach, der nach wenigen Metern in einer kleinen Höhle verschwand und unterirdisch weiter floss. Es war herrlich erfrischend, von diesem Quellwasser zu trinken.
Nachdem beide getrunken hatten, stiegen sie weiter den Berg hinauf. Nach einer halben Stunde hielt der Mann plötzlich und sagte: „Wir sind angekommen.“ „Wie angekommen?“, dachte Takeo bei sich. Er sah nichts als Felsen und wusste nicht im Geringsten, was sie hier sollten. „Komm mit mir!“, sagte der Mann in freundlichem Ton. Sie gingen um einen Felsen herum. Takeo traute seinen Augen nicht: Dort stand ein Haus – mitten in den Bergen. Die hintere Wand wurde durch einen Felsblock gebildet. Der größte Teil der unteren Hälften der beiden Seitenwände war ebenfalls aus Felsen gehauen. Der Rest der Seitenwände und die vordere Wand waren gemauert. Es gab je ein Fenster in der rechten und in der linken Seitenwand. Vor den Fenstern hingen Fensterläden, die wie die Tür in der vorderen Wand aus Holz waren. Die aus Felsgestein bestehende Bodenfläche links neben dem Haus war begradigt und bildete eine Terrasse. Dahinter lag eine Höhle, an deren Eingang sich eine kleine Feuerstelle befand. In der Höhle selbst lagerten größere Mengen Holz. Daneben lagen mehrere Fässer und einige Werkzeuge.
Takeo kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wie war es möglich, aus diesem harten felsigen Boden eine solch ebene Terrasse zu bilden? Das Gleiche galt für den Boden innerhalb des Hauses. Die Felsenwände so weit auszuhöhlen, um ein Haus entstehen zu lassen, muss eine unglaublich langwierige und anstrengende Arbeit gewesen sein. Und wo kam das ganze Holz her? Es gab zwar einen Wald in Sichtweite, doch dieser lag sehr weit unten am Berg. Wie hatte der Mann es geschafft, das Holz nach oben zu transportieren?
Der Mann bat Takeo, in das Haus einzutreten und forderte ihn auf, darin Platz zu nehmen und ein wenig auszuruhen. Er würde währenddessen einige Vorbereitungen treffen. Nach einiger Zeit rief der Mann, Takeo möge zu ihm auf die Terrasse kommen. Dort hatte der Mann eine Decke ausgebreitet und darauf gebratenes Fleisch und Tee serviert. Selten hatte Takeo ein Mahl mit einem solchen Genuss verspeist, wie an diesem Abend. Inzwischen war die Dämmerung eingetreten und er hatte seit den frühen Morgenstunden keine Nahrung mehr zu sich genommen.
Nach dem Essen sprach der Mann: „Ich weiß, wer Du bist und habe Dich erwartet. Yuudai hat mir viel über Dich erzählt. Ich wusste, nichts würde Dich davon abhalten, das Geheimnis zu ergründen.“ „Du kennst Yuudai?“, fragte Takeo verwundert. Der Mann goss erneut Tee in die beiden vor ihm stehenden Trinkgefäße. „Yuudai war mein Lehrer. Er sagte mir kurz vor seinem Tod, dass ein Samurai in seinem letzten Ausbildungsdurchgang dazu berufen wäre, unser Werk fortzuführen.“ „Dann bist Du …“, Takeo stockte einen Moment und formulierte seine Frage anders: „Dann gehörtest Du zum ersten Durchgang der Goldenen Schule, oder?“ Der Mann erwiderte mit einem milden Lächeln: „Du hast Recht. Mein Name ist Katsumi. Ich bin Samurai der Goldenen Schlange. Morgen früh werde ich beginnen, Dich in die Geheimnisse einzuweihen, nach denen Du suchst.“
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