Isamu wurde im letzten Schulungsjahr von einem besonderen Ehrgeiz gepackt. Als selbst Meister Yuudai und der Lehrer Masaru ihm außerordentliche Fähigkeiten im Schwertkampf bescheinigten, entstand in ihm der unbändige Wunsch, ein Unbesiegbarer zu werden. Auch Takeo wollte den vierten Grad erreichen. Die Art und Weise, wie beide ihr Ziel verfolgten, unterschied sich jedoch deutlich voneinander.
Isamu gab seinem Traum die Wichtigkeit seines Lebens. Um jeden Preis wollte er ein Unbesiegbarer sein und nichts sollte ihn daran hindern. Doch obwohl er vor sich seiner Kampfstärke bewusst war, überfielen ihn oft große Zweifel, ob er am Ende der Schulung auch die Anforderungen erfüllen könnte. Um diese Zweifel zu bekämpfen, legte er sich mehr und mehr ins Zeug. Er konnte seine Kampftechnik zwar ständig verbessern, seine Unsicherheit verschwand jedoch nicht. Nein, sie wuchs sogar ständig, worauf er sich noch mehr anstrengte. Irgendwann wurde er total verbissen. Jede Leichtigkeit schwand aus seinem Leben und er hatte nur noch sein Ziel im Sinn.
Bei Takeo war das völlig anders. Er hatte mehr erreicht, als er sich je erträumte. Bliebe alles so wie im Moment, war dies bereits die Erfüllung. Doch das Schönste, das er sich vorstellen konnte, war das Erreichen des vierten Grades. Deshalb war er im höchsten Maße beflügelt, an sich zu arbeiten und sich ständig zu verbessern. Doch er fühlte keinen Zwang, diesen unbedingt erlangen zu müssen. Er war dankbar für alles, was er bisher erleben durfte.
Immer häufiger sah er sich in seiner Phantasie, wie er bereits das Leben eines Unbesiegbaren führte. Eines Nachts träumte er, wie ihn Yuudai in den vierten Grad erhob und er die vierte Schlange auf seinen Oberarm tätowiert bekam. Selbst nach dem Aufwachen hatte er immer noch das Gefühl, das alles wäre wirklich passiert. Es fühlte sich so echt an. Bald gelang es ihm auch tagsüber so zu empfinden, als hätte er sein Ziel bereits erreicht. Er musste sich dafür noch nicht einmal anstrengen. Dieses Gefühl war einfach da. In den letzten drei Monaten der Schulung war er oft wie im Rausch. Seine Übungen erfüllte er mit einer enormen Leichtigkeit. Manchmal kam es ihm vor, als wäre er außerhalb seines Körpers und würde sich selbst bei Kampfübungen zusehen. Alles war perfekt und befand sich in einem kraftvollen Fließen.
Der letzte Schulungstag war angebrochen. Heute sollte sich entscheiden, ob einer der Samurai in den vierten Grad erhoben würde. Während der Ausbildung in der Goldenen Schule konnte Takeo viel von Masaru lernen. In den letzten Wochen jedoch wandelte er sich vom Schüler Masarus zum gleichwertigen Großmeister.
Masaru kam auf Takeo zu, legte seine rechte Hand auf dessen Schulter und sprach mit andächtiger Stimme: „Sieben Jahre lang warst Du mein Schüler. Nun bist Du ein wahrer Meister. Es gibt nichts mehr, was ich Dich noch lehren könnte. Du bist mir ebenbürtig.“ Takeo war stolz auf sich. Für ihn war es eine große Ehre, von dem Unbesiegbaren eine derartige Anerkennung zu erfahren.
Yuudai betrat den Platz des Ausbildungsgeländes. Während Isamu sichtlich nervös war und einen verkrampften Gesichtsausdruck hatte, wartete Takeo gelassen auf die Worte Yuudais: „Takeo, Du bist ein Kämpfer, der seinesgleichen sucht. Die Perfektion Deiner Kampfkunst und Deine vorbildliche Selbstbeherrschung sind nicht zu übertreffen. Ich erhebe Dich heute in den vierten Grad und Du gehörst von nun an zu den Unbesiegbaren.
Auch Du, Isamu, bist ein großer Samurai. Deine unglaubliche Schnelligkeit und Deine enorme Kraft machen Dich zu einem Ausnahmekämpfer. Ich habe selten jemanden ausgebildet, der solche Kampfkraft besitzt wie Du. Dein Schwertkampf gleicht dem meiner beiden besten Schüler der letzten 40 Jahre. Du bist ebenso gut wie Masaru und Takeo. Von daher wäre es angemessen, Dich in den vierten Grad zu erheben. Aber Du hast nicht das Herz eines Unbesiegbaren. Deine Schwächen sind Dein unbändiger Ehrgeiz und Deine Verbissenheit. Diese Schattenseiten könnten zu Deinem Fallstrick werden. Du wirst weiterhin als Samurai der Goldenen Schlange des dritten Grades im ganzen Lande verehrt werden. Der vierte Grad wird Dir allerdings verwehrt bleiben.“
Isamu war niedergeschlagen. Er verdrängte vollkommen alle würdigenden Aussagen über seine Kampfkunst und dachte nur noch daran, dass er ein Verlierer war. Tief betroffen verließ Isamu die Goldene Schule und machte sich auf den Heimweg.
Bevor auch Takeo und Masaru aufbrachen, vertraute Yuudai ihnen noch ein Geheimnis an: „Ich bin inzwischen alt geworden und diese siebte war meine letzte Schulung als Lehrer.“ Takeo zeigte sich erstaunt: „Dann stimmt es also doch, was man mir erzählte. Vor dieser Schulung gab es also nicht fünf, sondern sechs Durchgänge.“ Yuudai setzte seine Ausführungen in ruhigem Ton fort: „Ja, es ist wahr. Die erste Schulung hatte etwas Besonderes, das sich in den folgenden Jahren nie wiederholte. Erst Ihr beiden habt die Hoffnung auf diese einzigartige Besonderheit wiederbelebt. Nun vertraue ich Euch etwas an, das bisher nur die besten Samurai des ersten Durchganges wussten: Der vierte Grad ist nicht der höchste, den Ihr erreichen könnt. Einer von Euch wird noch in diesem Jahr eine Entdeckung machen, die nicht nur sein eigenes Leben völlig verändert, sondern auch das der Menschen, die mit ihm in Verbindung stehen. Irgendwann in ferner Zukunft wird es sogar die ganze Welt verändern.“
Takeo und Masaru staunten verwundert. Yuudai gab jedoch keine weiteren Erläuterungen und entließ die beiden Samurai, die darauf ihren Heimweg antraten. Der Meister selbst verschwand in den Wäldern und kam erst nach zwei Monaten zurück in sein Haus. Wenige Wochen danach starb er im Alter von 77 Jahren.
Isamu konnte sich nicht damit abfinden, sein Ziel verfehlt zu haben. Die anfängliche Niedergeschlagenheit verwandelte sich zunehmend in immer größeren Neid auf Takeo, weil dieser genau das bekam, was er sich selbst erträumte. Nachdem Isamu vom Tod Yuudais erfuhr, suchte er seinen alten Freund auf und machte diesem unmissverständlich seinen Entschluss deutlich: „Solltest Du wirklich unbesiegbar sein? Im Schwertkampf bin ich genauso gut wie Du, vielleicht sogar besser. Ich fordere Dich zu einem Kampf auf Leben und Tod heraus. Dann werden wir sehen, wer von uns unbesiegbar ist.“ Alle Versuche Takeos, Isamu von seinem Vorhaben abzubringen, schlugen fehl. Isamu war derart entschlossen und in unbändigem Neid verstrickt, dass er keinen anderen Gedanken zuließ.
So kam es zum Kampf zweier Samurai, die seit ihrer Kindheit miteinander befreundet waren und zu den besten Kämpfern des Landes gehörten. Zehn Minuten lang wechselten sie sich mit gegenseitigen Attacken ab und hielten den Angriffen ihres Gegners stand. Dann entwickelte Takeo während des Kampfes einen Plan: Er wollte Isamu so entwaffnen, dass er ihn besiegen konnte, ohne ihn dabei zu töten. Seine Gedanken hatten einen Moment der Unachtsamkeit zur Folge. Diesen Augenblick nutzte Isamu und fügte ihm eine schwere Wunde oberhalb des rechten Knies zu. Durch seine Verletzung fiel es Takeo überaus schwer, seinen festen Stand beizubehalten, geschweige denn, sein verletztes Bein zu bewegen. Diese Schwäche nutzte Isamu, der nun mit regelmäßigen Attacken ganz gezielt die rechte Seite seines Gegners angriff. Mit seiner enormen Schnelligkeit konnte er einen weiteren Treffer am Bein landen. Dann folgte ein Schwerthieb. Takeo konnte gerade noch seinen Kopf zur Seite bewegen, deshalb traf ihn das Schwert nicht voll. Isamus Katana streifte ihn jedoch über seinem rechten Auge.
Takeos Blut lief die Augenbraue hinunter. Nach kurzer Zeit konnte er mit seinem rechten Auge nichts mehr erkennen und sah nur noch auf dem linken etwas. Er wusste, dass mit dieser Verletzung eine Verteidigung auf Dauer unmöglich wäre.
Da entschloss er sich für ein Vorgehen, mit dem Isamu nicht rechnen würde. Blitzschnell ließ er sich trotz seines verletzten Beines auf die rechte Seite fallen und löste gleichzeitig seine rechte Hand von seinem Schwert, so dass es nun in seiner linken Hand lag. Wie aus einer Eingebung heraus tat er das genau in dem Augenblick, als Isamu einen weiteren Angriff auf die rechte Seite Takeos vornahm. Durch die Vorwärtsbewegung der Kampfhand Isamus war dessen Körper während eines kurzen Augenblicks ungeschützt. Takeo traf ihn mit seinem Katana tödlich. Das alles ging so schnell, wie ein Augenaufschlag dauert.
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