„Woher wusste Yuudai, dass ich berufen bin, diese Veränderung voranzutreiben?“ „Yuudai spürte, dass Du der Auserwählte bist. Er besaß die Gabe, ins Innerste der Menschen zu schauen. Er erkannte, dass Du offenen Herzens bist und das Besondere suchst.
Nun will ich Dir die Geheimnisse der Schriftrolle anvertrauen. Bevor ich zum Inhalt komme, erzähle ich Dir einige Hintergründe, die Yuudai vom verstorbenen Missionar erfuhr: Geschrieben wurde die Rolle vor sehr langer Zeit von einem weisen Mann. Er berichtete von einem Meister, der über unglaubliche Kräfte verfügte. Zum einen war dieser Herrscher über die Elemente. Er konnte Wasser in Wein verwandeln, über einen See laufen, Kranke heilen und sogar Tote auferwecken. Darüber hinaus lebte er die Liebe wie kein zweiter. Diese Liebe machte er zum Zentrum seiner Botschaft an die Menschen. Jeder, der sein Herz für diese Liebe öffnete, wurde von ihr erfüllt und verwandelte sich selbst ebenfalls in einen Liebenden. Vieles wurde über das Leben des Meisters und seine Lehren niedergeschrieben. Wenige Schreiber kannten ihn noch persönlich, die meisten allerdings nicht mehr. Später wurden einige dieser Schriften ausgewählt und zu einem heiligen Buch zusammengefasst. Die vorhin genannte Kirche wurde vor langer Zeit gegründet. Zu diesem Zeitpunkt lebte niemand mehr, der den Meister noch persönlich kannte. Anfänglich besaß die Kirche noch keine weltliche Macht. Die Nachfolger des Meisters wurden in früher Zeit verfolgt und oft sogar getötet. Einige Generationen später wurde die Verfolgung durch den Kaiser untersagt und weniger als 70 Jahre danach sogar zur Staatsreligion erklärt. Die Kirche gewann im Laufe der Zeit zunehmend an Einfluss und war irgendwann sogar mächtiger als Kaiser, Könige und Fürsten einer großen Anzahl von Ländern.“
„Hat die Kirche immer noch diese gewaltige Macht?“ „Die Kirche, die später den Beinamen ‚die katholische’ bekam, das bedeutet ‚die allgemeine’, ist zwar immer noch mächtig, gerät jedoch zunehmend in Bedrängnis. Sie befindet sich nun in einer Krise, die der weise Mann in der Schriftrolle prophezeite. Eines Tages wird die katholische Kirche eine zweite Krise erleben, die ihren Untergang bedeuten könnte.“
„Die Schriftrolle prophezeit also eine schwierige Zukunft für die katholische Kirche, die sogar ihr Ende bedeuten kann. Nun wollen ihre Oberen unbedingt vermeiden, dass diese Worte bekannt werden.“ „Das ist längst noch nicht alles, Takeo. Die Krisen der katholischen Kirche bilden nur einen kleinen Teil der Aussagen der Schriftrolle. Es stehen dort viele weitere Dinge geschrieben, die einen Machtverlust bedeuten würden. Jahrhunderte lang hat die Kirche den Menschen vorgeschrieben, wie sie zu glauben, zu denken und zu handeln haben. Sie hat die Leute von sich abhängig gemacht und konnte dadurch Macht erlangen. Nun fürchtet die Kirche, dass die Worte der Schriftrolle zu den Menschen gelangen. Wenn diese ihren Sinn begreifen, dann benötigen sie keine Vorschriften mehr und niemanden, der ihnen sagt, was sie zu tun und zu lassen haben. Sie brauchen keinen Priester mehr, denn sie selbst sind ihr eigener Priester. Wichtige Erkenntnisse über das wahre Glück und das Geheimnis des Lebens werden durch die Schriftrolle offenbar. Ich durfte bereits etwas von diesen Geheimnissen erleben, denn wir haben einiges von dem, was wir aus der Schriftrolle erfahren haben, in unserem Leben angewandt.“
„Du sprichst von ‚wir’. Meinst Du damit Yuudai und Dich?“ „Takeo, erinnerst Du Dich, dass neben mir noch zwei weitere Samurai in den vierten Grad erhoben wurden? Wir drei ergründeten gemeinsam mit Yuudai die Geheimnisse der Schriftrolle. Manches erschien uns fremd, weil uns die Kultur des Schreibers unbekannt und seine Weisheiten sehr unterschiedlich von den unseren ist. Ein Abschnitt kam uns dennoch vertraut vor. Wir ließen diese Worte in uns wirken und erinnerten uns an eine bekannte Schöpfungsgeschichte. Vor langer Zeit entstand in China die Lehre des Daoismus 11, die später auch bei uns in Japan verbreitet wurde. Nach daoistischer Vorstellung entstand die Welt aus dem ursprünglichen Qì 12. Bei uns ist es auch als Ki oder Tao bekannt. Am Anfang waren Yin und Yang 13noch vermischt. Himmel und Erde bildeten sich erst durch Trennung des einen: Yang stieg hell und klar empor und wurde Himmel, während Yin dunkel und schwer wurde und zur Erde sank. Qì, Yin und Yang haben bei uns während früherer Meditationen bereits eine Rolle gespielt. Doch was wir durch die Schriftrolle kennengelernt hatten, war überraschend für uns. Nun sollst Du eine Unterweisung bekommen. Das wird der Beginn für Dich sein, die Geheimnisse des Lebens kennenzulernen, die in der Schriftrolle geschrieben stehen. Du kannst wählen, ob die erste Übung im Stehen oder im Sitzen geschehen soll.“
Takeo entschied sich für eine bequeme Sitzposition mit gerader Haltung seines Oberkörpers. Katsumi begann mit der Einführung: 14„Schließe Deine Augen und nimm Deinen Körper wahr. Nun richte Deine Aufmerksamkeit auf den Strom der Kraft, der sich in Deinem Körper befindet. Dieser Strom ist das Qì. Stell Dir nun vor, wie das Qì leicht wird und aufsteigt.“ Katsumi wartete einen Moment und fuhr dann fort: „Was nimmst Du wahr?“ Takeo antwortete mit geschlossenen Augen: „Ich kann tatsächlich fühlen, wie das das Qì leichter wird und nach oben steigt.“ „Lasse nun das Qì ganz bewusst weiter aufsteigen und spüre, was dabei in Deinem Körper geschieht. Achte besonders auf Dein Gesicht, Deinen Brustbereich und Deinen Bauch. Was geschieht nun mit Dir?“ „Mein Gesicht entspannt sich, meine Brust wird leicht und im Bauch spüre ich eine schöne Kraft. Alles fühlt sich weit und frei an.“
„Nun lasse das Qì sinken und schwer werden.“ Wieder wartete Katsumi eine Zeitlang und stellte danach die gleichen Fragen nach dem Körpergefühl. Takeos Antwort klang diesmal beklommen: „Mir ist, als ob meinem Körper die Lebenskraft entzogen wird. Die Muskeln unter meinen Augen und meine Mundwinkel ziehen nach unten. Mein Brustkorb ist eingeengt und auf meinem Bauch liegt ein unangenehmer Druck. Je mehr mein Qì nach unten sinkt, desto größer wird dieser Druck. Nun scheint alles dunkler zu werden. Was geschieht mit mir? Es wird tatsächlich dunkel.“ „Halt ein! Lass nicht zu, dass Du weiter hinunter sinkst, Takeo! Sorge dafür, dass Dein Qì wieder leicht wird und aufsteigt.“ Takeo tat, wie ihm gesagt wurde. Während er seine Energie wieder hochzog, veränderten sich sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung.
Katsumi erläuterte ihm einige wichtige Dinge: „Als wir diese Übung zum ersten Mal durchführten, ging es uns ähnlich. Bei mir begann es dunkel zu werden und ich habe daraufhin mein Qì sofort wieder aufsteigen lassen. Einer von uns zog jedoch noch weiter hinunter und alles in ihm wurde völlig dunkel. Er fiel daraufhin in Ohnmacht. Wir waren sehr besorgt, weil wir nicht wussten, was geschehen war. Nach einer Weile kam er wieder zu sich. Er ließ sein Qì sofort aufsteigen und sein Körper wurde nach kurzer Zeit wieder mit Kraft erfüllt. Wir waren froh, dass er keinerlei Schaden erlitten hat. Seitdem haben wir unser Qì nie wieder so weit hinabsinken lassen, denn wir wollten nicht die Kontrolle verlieren. Nach einiger Zeit gelang es uns, das Qì absinken zu lassen, ohne diese Enge und Dunkelheit zu erleben. Auf diese Weise führt es zur Ruhe und ist sehr entspannend. Mit dieser Übung werde ich Dich in den nächsten Tagen vertraut machen. Zunächst ist es wichtig, dass Du die Unterschiede zwischen der aufgestiegenen Weite und der hinabgestiegenen Enge kennenlernst. Nun lass es noch weiter aufsteigen, diesmal noch schneller und kräftiger als vorher.“
„Das ist erstaunlich, Katsumi. Jetzt wird alles ganz hell und mein Körper ist erfüllt mit Frische, Freiheit und Kraft. Es ist, als würde sich mein Brustkorb nach vorne ausweiten und alles fühlt sich frei, weit und liebevoll an. Und nun muss ich lächeln, obwohl ich mir das gar nicht bewusst vorgenommen habe. Es geschieht einfach so. Du sagtest am Anfang, ich könne bei dieser Unterweisung stehen oder sitzen. Ist es auch im Liegen möglich?“ „Probier es aus!“ Takeo legte sich auf die Decke und schloss erneut seine Augen. Nach einiger Zeit begann er zu reden: „Es geht nicht. Das Qì steigt nicht nach oben – doch halt – jetzt spüre ich, dass es möglich ist, jedoch nicht so, wie ich dachte: Beim Liegen muss ich es nicht zum Himmel aufsteigen lassen, sondern zu meinem Kopf hin und darüber hinaus.“ Katsumi sagte erfreut: „Du entdeckst vieles selbst, ohne dass ich Dich unterweise. Wenn Dein Qì nun wieder aufgestiegen ist, dann gestatte Deinem Herzen, sich zu öffnen.“ „Wie soll ich das tun, Katsumi?“ „Wenn Du es nicht genau weißt, dann stelle Dir einfach vor, dass Dein Herz sich öffnet.“
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