Nach einiger Zeit meldete sich Takeo erneut zu Wort: „Ich habe getan, was Du gesagt hast. Während ich mir vorstellte, wie sich mein Herz öffnet, habe ich zunächst nichts Besonderes vernommen. Nun aber spüre ich, wie mein Herz leicht und frei wird. Das geschieht ganz wie von selbst. Ich fühle Liebe.“ „Das ist sehr schön, Takeo. Nun lasse Dein Qì wieder hinabsteigen und nach einer kurzen Weile erneut hoch.“ „Gern würde ich es jetzt nur noch aufsteigen lassen. Hinuntersteigen ist nicht angenehm.“ „Für Deine weiteren Schritte ist es wichtig, dass Du den Unterschied in Deinem Inneren spürst. Mach ein wenig weiter damit! Du wirst merken, es lohnt sich für die lebensverändernde Kraft, die Du noch erfahren wirst.“
Das ließ sich Takeo nicht zweimal sagen. Diese Aussicht beflügelte ihn ungemein. Er ließ das Qì noch einige weitere Male hinuntersteigen und anschließend wieder hoch, bis ihn Katsumi schließlich unterbrach: „Öffne nun Deine Augen und zerstreue ein wenig Deine Gedanken. Denke danach an etwas, das Dir in der Vergangenheit schlechte Gefühle bereitete, Dir aber nicht allzu viel bedeutet. Es sollte sich also nicht um Deinen größten Schmerz handeln.“
Takeo erinnerte er sich an eine Begebenheit aus seiner Zeit, als er seinen Dienst als Samurai beim Shōgun Toyotomi Hideyoshi antrat. Am Hof gab es einen älteren Samurai, der ihn eines Fehlers bezichtigte. In Wahrheit hätte dieser ihn jedoch selbst zu verantworten gehabt. Takeo wäre dem Samurai am liebsten offen entgegengetreten und hätte seine Rechtfertigung verlangt. Da er noch sehr jung und neu in seinem Dienst war, ließ er die Angelegenheit auf sich beruhen und schwieg dazu. Er wollte nicht riskieren, sich durch eine Auseinandersetzung möglicherweise Nachteile bei seinem Dienstherrn einzuhandeln. Sobald er an diese Situation dachte, war er innerlich aufgebracht über diese Ungerechtigkeit. Er konnte seine negativen Gedanken jedoch auch wieder abstellen und war imstande, diesem Samurai freundlich zu begegnen. Später zahlte sich dieses Verhalten für ihn aus. Eines Tages wurden Takeo und der ältere Samurai beauftragt, sich um einen Aufstand in der japanischen Hauptstadt Heian-kyō 15zu kümmern. Die beiden wurden von einigen bewaffneten Bediensteten des Shōgun unterstützt. Der Versuch, die Aufständischen zu besänftigen, schlug fehl. Ein Mann aus der Menge griff Takeo plötzlich hinterrücks mit einem Speer an. Blitzschnell schob der ältere Samurai Takeo zur Seite und zerstörte den Speer mit seinem Schwert. Der Angreifer wurde daraufhin sofort gefangen genommen, während die übrigen Aufständischen flohen. Der Samurai hatte Takeo das Leben gerettet. Von da an verrichteten beide ihren gemeinsamen Dienst in freundschaftlicher Verbundenheit.
Die ungerechtfertigte Beschuldigung hielt Takeo für geeignet, sie in die Übung einzubauen. Wenn er sich die Situation vorstellte, bekam er sofort schlechte Gefühle. Katsumi forderte ihn nun auf, das Qì wieder sinken zu lassen. Als sich Takeo heruntergezogen hatte, sagte Katsumi zu ihm: „Denke nun an die schmerzhafte Situation, die Du Dir vorhin vorgestellt hast. Wie geht es Dir dabei?“ Takeo antwortete bedrückt: „Alles fühlt sich schwer an. Ich bin sehr wütend und würde dem Samurai am liebsten etwas Verletzendes sagen. Ja, ich habe wirklich die Absicht, ihn zu verletzen. Wenn ich jedoch an die möglichen Folgen denke, komme ich mir machtlos vor. Ganz egal, wie ich mich entscheide, jeder Weg ist falsch. Das bekümmert mich und ich fühle mich kraftlos. Ich bin wie gelähmt, unfähig etwas Sinnvolles zu tun und ergebe mich in mein Schicksal.“
„Nun denk nicht mehr an diese Situation, sondern an etwas anderes! Lass anschließend Dein Qì hochsteigen!“ Takeo benötigte einige Minuten, um die Gedanken an die ungerechte Behandlung loszuwerden. Als er wieder hochgezogen hatte, bat ihn Katsumi, erneut an das Problem zu denken. Kurze Zeit später rief Takeo überrascht: „Das ist eigenartig. Obwohl ich mir dasselbe Ereignis vorstelle, habe ich nun keine schlechten Gefühle. Die Ungerechtigkeit ist zwar nach wie vor da, doch sie macht mir nichts mehr aus. Mir kommt der Gedanke, dass der Samurai vielleicht selbst große Angst hatte und deshalb auf diese Weise handelte. Er war sehr unsicher und hat aus seiner Schwachheit heraus so reagiert. Ich fühle mich nun als der Stärkere, weil ich es nicht auf einen Streit anlegte. Dadurch konnte auch er sich mit der Zeit sicherer fühlen. Als er innerlich wieder stark war, rettete er mir sogar das Leben und wurde mein Freund. Alles hat sich zum Guten gewendet. Was geschehen ist, war also gar nicht schlimm. Ich hatte es nur immer als schlecht beurteilt. Mir kommen noch weitere Gedanken, wie ich mich damals hätte verhalten können. Vielleicht mit ihm offen über den Vorfall sprechen, doch so, dass er dabei sein Gesicht nicht verliert. Mir kommen noch so viele Möglichkeiten in den Sinn, was ich sonst noch alles hätte tun können. Das ist unglaublich, Katsumi!“
„Takeo, Du siehst, nicht die Dinge an sich sind gut oder schlecht, sondern unsere Einstellung zu den Dingen. Ich habe einmal miterlebt, wie zwei sehr wohlhabende Männer durch einen Überfall mit Brandstiftung ihr ganzes Hab und Gut verloren. Ihr Haus brannte nieder und sie standen mit leeren Händen da. Du kannst Dir vorstellen, dass die Männer sehr betroffen waren. Einer von beiden ist an dem schweren Verlust verzweifelt. Er hatte 30 Jahre seines Lebens daran gearbeitet, so weit zu kommen. Nun war alles umsonst. Er sah keinen Sinn mehr in seinem Leben. Er verlor jeden Antrieb und vegetierte jahrelang nur noch so dahin. Täglich trank er berauschende Getränke, die ihn schließlich ganz gefangen nahmen. Nach wenigen Jahren starb er ohne Mut und Lebenssinn.
Auch der andere Mann hatte anfangs großen Kummer. Doch nach einigen Tagen sagte er sich, dass es keinen Sinn hätte, die ganze Zeit zu trauern. Besser, er würde jetzt etwas unternehmen. Seinen gesamten Besitz hatte er verloren. Nun überlegte er, was ihm noch geblieben sei. Er stellte fest, er hatte zwei gesunde Hände zum Arbeiten, einen klugen Kopf, Tatendrang und die Liebe seiner Familie. Das sah er als ausreichend an, um einen Neubeginn zu wagen. Die ersten Wochen mussten er und seine Familie im Freien schlafen. Dann hatte er eine kleine Hütte fertig gestellt, die ihnen Schutz vor Regen und Kälte bot. Er arbeitete hart und er konnte wenigstens soviel erwerben, dass seine Familie überlebte. Mit der Zeit ging es ihm immer besser. Schließlich erlangte er erneut einen ansehnlichen Wohlstand. Diesmal benötigte er nicht 30 Jahre, wie beim ersten Mal. Nun gelang ihm das Gleiche in nur fünf Jahren. War das erste Jahr noch schwierig, schien ihm danach einfach alles zu gelingen. Ihm begegneten zur rechten Zeit die richtigen Menschen, die ihm weiterhalfen und hilfreiche Verbindungen herstellten. Auch nach den fünf Jahren wuchs sein Reichtum weiter an. Das war aber nicht mehr das Wichtigste in seinem Leben. Er war innerlich reich und dankbar für alles, was sich in seinem Leben zugetragen hatte. Einen großen Teil seines Vermögens nutze er, um Menschen in Not zu helfen. Früher hatte er trotz seines Wohlstandes ständig Angst, diesen zu verlieren. Dieser Furcht musste die Lebensfreude weichen. Heute ist er glücklich.“
Takeo hatte aufmerksam zugehört und sagte er überzeugt: „Ich verstehe, dass mich kein Ereignis an sich dauerhaft glücklich oder unglücklich machen kann. Es kommt immer darauf an, was ich daraus mache.“ „Du lernst sehr schnell, mein Freund. Du hast erlebt, wie Du mit einem aufgestiegenen Qì etwas als gut beurteilen kannst, das Dir zuvor noch schlechte Gefühle machte. Die Ungerechtigkeit ist nach wie vor da. Sie bereitet Dir nun aber kein Unbehagen mehr. In nächster Zeit wirst Du lernen, selbst schmerzhafteste Erfahrungen aus vergangenen Tagen zu verwandeln. Bald wirst Du in der Lage sein, innerhalb kürzester Zeit in jeden gewünschten Gefühlszustand zu gelangen. Dann wird es Dir auch möglich sein, die Dinge in Deinem Leben zu verändern. In der Schriftrolle ist von der ‚Kraft des Glaubens’ die Rede, mit der man sogar Berge versetzen kann. Damit ist es uns gelungen, Kraftfelder zu errichten, die uns unangreifbar machen. Wenn Du eines Tages dazu fähig bist, versetze aber bitte nicht die Berge um uns herum. Das ist schließlich meine Heimat, in der ich mich sehr wohl fühle und die Berge gehören dazu.“ Katsumi lachte und auch Takeo konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
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