«Die Sachen stehen alle in der Abstellkammer. Haare werden jeden zweiten Tag gewaschen ...»
«Beate, ich habe mir nur den Arm gebrochen – weiter nichts. Als könnten wir uns nicht alleine organisieren! Mehr als dreißig Jahre lang habe ich ein eigenes Geschäft geführt und parallel dazu ein Kind alleine großgezogen, dich übrigens, und deine Tochter hat immerhin Abitur – wir kriegen das schon hin!»
«Ach kommt, Leute, können wir nicht einfach ein bisschen übers Wetter reden? Dann muss sich auch niemand aufregen.»
Martha presst beherrscht die Lippen aufeinander, Mama trinkt einen Schluck Wasser, hat die Zankerei sofort vergessen.
«Was hast du da in der Hand, Liebes?», fragt sie neugierig meine Hände fixierend. Ich muss die Visitenkarte aus der Tasche gezogen haben, denn meine Finger spielen damit.
«Ein Geheimnis?», hakt sie nochmal nach.
«Eine Eintrittskarte», sage ich schließlich.
«Wofür?», fragt jetzt Martha. Ich zögere.
«In eine andere Welt ... in eine schönere Welt.» Martha überlegt, fragt dann selbstsicher: «Mann oder Job?»
Ich antworte nicht, zucke nur leicht mit den Schultern, kann dabei ein kleines Lächeln nicht unterdrücken.
Martha sieht auf meine Hand, betrachtet stirnrunzelnd das mittlerweile knittrige Papier, das durch das intensive Betasten weich geworden ist.
«Wirst du sie auch benutzen, die Eintrittskarte?», Martha hat sich zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen.
«Ich denke schon», sage ich leise.
«Benutze sie!», sagt Martha mit fester Stimme. Sie hat sich wieder vorgebeugt, um ihren Worten Nachdruck zu verschaffen. «Benutz sie, auch, wenn der Besuch nur von kurzer Dauer ist.» Martha sieht mich eindringlich an, will herausfinden, ob ich verstehe, was sie meint.
«Warum sollte der Besuch kurz ausfallen?», frage ich mit ebenfalls fester Stimme, «traust du mir nicht zu, dass ich mich dort beweise?»
«Also ich bin raus, keine Ahnung, worüber ihr sprecht», genervt hebt Mama die Hände.
Martha mustert mich.
«Reinkommen ist einfach, dort zu bleiben schwieriger. Das ist alles, was ich sagen will. Um Rückschläge kommst du nicht herum. Mach es trotzdem – was auch immer es sein mag.»
Sie kennt mich so gut, weiß, dass ich dazu tendiere, so lange zu zögern, bis die Chance verstrichen ist.
Ich nicke knapp. Dann wird das Essen serviert.
Der Rest des Abends verläuft friedlich, streckenweise sogar amüsant. Vom Oleander in ihrem Garten geht meine Mutter nahtlos zu einem Sommerurlaub in der Toskana über, in dem ich mich angeblich lange Zeit weigerte, am Strand, nein, sie korrigiert sich, überhaupt, eine Badehose, geschweige denn ein Bikinioberteil anzuziehen. Und das, obwohl alle anderen Kinder in meinem Alter das bereits freiwillig aus Schamgefühl taten. Fassungslos blicke ich sie an, weil sie meinen – ich zitiere – «Hang zum Freikörperkult, den man damals höchstens noch von den Ossis kannte» in immer peinlicheren Details schildert. Beide lachen sie, Mama über die süßen Allüren ihres kleinen Mädchens, das damals noch ganz in ihren sicheren Händen war, und Martha … bei ihr ist es etwas anderes. Sie lacht, weil sie mein entgeistertes Gesicht sieht. Sieht, wie ich versuche, Mamas Lautstärke mit Handzeichen nach unten zu regulieren, und mich umschaue, um abzuschätzen, wie viel die Tischnachbarn davon mitbekommen. Sie lacht, weil die anderen, den Kellner miteingeschlossen, grinsen und ich rot dabei werde und weil ich meine Verzweiflung gespielt auf die Spitze treibe, indem ich mir das Weinglas bis zum Rand auffülle und hektisch daraus trinke. Und sie lacht am lautesten, weil meine Mutter bis zum Schluss denkt, ihr Lachen sei das Resultat der amüsanten Urlaubsanekdote.
Als es vorbei ist, kommt der Kellner lächelnd an unseren Tisch und fragt mich, und zwar nur mich, ob es jetzt etwas Stärkeres sein dürfe. Für die Verdauung des Ganzen. Er zwinkert. Ein Averna z. B. – der ginge auch aufs Haus.
«Der findet dich aber gut», sagt meine Mutter. Martha trocknet sich kopfschüttelnd die Augenwinkel.
Spät gehen wir nach Hause.
Ich schlafe im Wohnzimmer, Mama im Gästezimmer.
Was für ein Tag – gut, dass er jetzt vorbei ist.
Am nächsten Morgen wache ich mit Kopfschmerzen auf und blicke mich orientierungslos um. Im Traum haben sich Szenen aus verschiedenen Welten gemischt. Stimmen aus der Küche und Bambus-Spitzen vor dem Fenster – ich weiß wieder, wo ich bin. Müde wanke ich direkt ins Bad, wo kaltes Wasser im Gesicht die Bilder der Nacht und die Menthol-Zahnpasta den üblen Geschmack im Mund vertreiben. Dann bin ich so weit.
Glücklicherweise ist Mama schon abfahrbereit, als ich auf den Balkon komme. Aber als sie mich sieht, legt sie lächelnd den Kopf schief und setzt sich neben mich auf die Bank. Mit dem Zeigefinger malt sie eine große, sich verjüngende Spirale auf meinen Rücken. Bei der kleinsten Windung angekommen, tippt sie einmal in die imaginäre Mitte und beginnt die Spirale dann in die entgegengesetzte Richtung von Neuem. Dabei geht sie ihre Packliste durch, um sicherzugehen, dass sie auch nichts vergessen hat, und bedauert, dass sie uns, Martha und mich, nun so lange nicht sehen wird. Aus den Spiralen werden Kreise, aus den Kreisen Wellenlinien. Mein Rücken sackt unter der feinen Berührung immer weiter in sich zusammen. Die Entspannung ist beendet, als sie noch ein paar Tipps für die kommenden Wochen, in denen wir «auf uns alleine gestellt» sein werden, von sich gibt.
Wenig später verabschieden wir sie winkend am Straßenrand.
«Ich liebe deine Mutter, aber ich bin froh, dass sie jetzt wieder nach Hause fährt.» Martha starrt dem Auto eine Weile mit leerem Blick hinterher und dreht sich dann plötzlich um.
«Auf, auf, du kannst jetzt das Gästezimmer beziehen.»
Ich weiß, was sie meint. Mama ist eben anders. Nichts trifft sie unvorbereitet. Waghalsiges und Abenteuerliches ist ihr zutiefst zuwider. Sie ist ein Spießer. Und dazu liebevoll und fürsorglich. Man kann ihr schwer böse sein, obwohl man es oft muss, denn ihr fehlt jegliches Feingefühl für die Befindlichkeiten ihrer Mitmenschen. Ich unterstelle ihr da gar keine Absicht, vielmehr ist es, als fehlte ihr der entsprechende Sinn. Als sei sie ohne geboren worden. Ein genetischer Defekt, eine Laune der Natur. Und dann ihr Humor. Es ist nicht so, dass sie keinen hätte, sie lacht ja viel. Allerdings weiß man oft nicht, worüber. Ironie und Situationskomik sind ihr vollkommen fremd, aber wenn kleine Kinder an Karneval lustige Tierkostüme tragen, kann sie sich kaum wieder beruhigen. Sie sagt, entweder man werde wie die eigene Mutter oder wie das genaue Gegenteil und so raubt sie uns mit ihrem pastellfarbenen, familienfokussierten und harmonieverschleierten Blick auf die Welt oft den letzten Nerv. Während ich das Gästebett frisch beziehe, hängen meine Gedanken weiter bei Mama. Vielleicht hatte sie auch keine andere Wahl, musste sich das Feingefühl, diesen Sinn, in jungen Jahren selbst amputieren, um einigermaßen glücklich aufwachsen zu können in einer Frauen-WG ohne Vater und mit einer allzu zielstrebigen Mutter.
Es ist Sonntag, der Zoo ist laut. Auf dem Balkon nippt Martha abwesend an ihrem zweiten Kaffee. Durch die Bäume auf der Freianlage der Bisons lässt sich schon so früh am Morgen ein nicht enden wollender Besucherstrom erkennen. Die Geräuschkulisse ähnelt der eines Freibades, bei der sich die Stimmen zu einem beruhigenden Hintergrundrauschen mischen. Eine Lautsprecherdurchsage hallt blechern zu uns herüber. Irgendein Kind hat seine Eltern verloren und will im Zoo-Shop abgeholt werden. Wir schweigen. Es will kein Gespräch entstehen. Fühle mich fehl am Platz, fast unerwünscht.
In den kommenden Wochen werde ich Martha helfen. Mama hatte das vorgeschlagen. Damit sei ich wenigstens sinnvoll beschäftigt, bis ich mir einen neuen Job gesucht hätte. Mir war das recht: raus aus Passau, Zeit nachzudenken. Außerdem ist es Martha, seit jeher mehr Freundin als Oma. Aber jetzt gerade ist sie mir fremd. So verschlossen. Vielleicht liegt es am Alter. Irgendwann muss die Zeit uns trennen. Dann wird sie nicht mehr verstehen können, dass die Begegnung mit einem Mann im Zug mich vollkommen einnimmt, weil ihre Gedanken sich um Elementarstes, den körperlichen Verfall, drehen. Dann werden wir uns fremd gegenübersitzen, sie krumm und sabbernd und ich … Wie erträgt man das, wenn ein geliebter Mensch, ein Idol, unaufhaltsam verfällt? Meine Eingeweide ziehen sich zusammen. Mir wird übel. Aber dann sehe ich, wie sie für einen Moment die Fliege auf der Tischkante direkt vor sich fokussiert, um dann blitzschnell zuzuschlagen. Fliege tot. Sie lächelt und schnippt das leblose Insekt geschickt vom Balkon. Und das alles mit links – als Rechtshänderin. Der Krampf in meinem Bauch löst sich wieder. Noch muss ich mir keine Sorgen machen.
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