Ich zeichne ihn nochmal. Er bekommt eine zweite Chance. Sein Verhalten der alten Dame gegenüber hat mich wirklich gerührt. Möglicherweise ist er doch nicht so hohl und arrogant, wie ich glaube.
Diesmal will ich ihn so darstellen, wie ich ihn hier antreffe. Schön, bekleidet, Fahrgast in einem Zug. Keine Über- oder Untertreibung. Diesmal bin ich nicht Schöpfer, nur abbildendes Medium. Aber selbst das ist eine Kunst, erfordert gleichzeitig Distanz und Nähe.
Als ich fertig bin, halte ich leichtsinnig das Buch ein Stück von mir weg, um die Zeichnung besser mit dem Original vergleichen zu können. Da trifft mich sein blauer Blick wieder. Interessiert beugt er sich vor, will sehen, was ich gezeichnet habe.
«Darf ich mal sehen?», fragt er lächelnd.
«Das geht leider nicht.» Adrenalin treibt mir die Hitze in den Körper. Er hat mich tatsächlich angesprochen.
«Warum?»
«Weil ich es nicht will ... und außerdem ... es geht auch nicht, es geht auf keinen Fall.» Ich stelle mir seine Reaktion auf den Mini-Schwanz vor, muss unweigerlich lachen.
Er lächelt irritiert. «Gibt es nicht ein Recht am eigenen Bild?»
«Am eigenen Foto vielleicht, aber nicht an meinem Bild von dir. Alles hier in diesem Buch ist meine Schöpfung.»
Meine ganze Schlagfertigkeit basiert einzig auf dem Geheimnis seines Mikropenis.
«Außerdem bin ich noch gar nicht fertig.»
Ich greife wieder zum Stift, zeichne eine Sprechblase neben David II: «Almas David», schreibe ich hinein. Damit schließe ich endgültig aus, dass ich ihm zeigen werde, was ich produziert habe. Anschließend klappe ich das Buch geräuschvoll zu.
Er schaut mich direkt an, sucht in meinen Augen eine Erklärung. Seine blaue Iris dabei wie ein Strudel, mit dem er mich zu hypnotisieren versucht.
«Keine Chance?», fragt er, neigt dabei schelmisch den Kopf zur Seite.
«Nein», sage ich mit fester Stimme. Und als zwei Falten sich zwischen seinen Brauen bilden, füge ich entschuldigend hinzu: «Ich bin Pygmalion.»
Er lehnt sich zurück und mustert mich interessiert.
«Wenn ich doch nur einen blassen Schimmer hätte, wovon du gerade sprichst.»
Meine Schultern zucken. Ich lege das Buch zur Seite, wünsche mir, dass unser Gespräch damit beendet sei. Habe gesiegt, die Augenhöhe wiederhergestellt. Dieser kleine Triumph stimmt mich zufrieden.
Jedoch nur kurz, bis zur Fahrkartenkontrolle.
Der Schaffner bittet mit tiefer Stimme und halb gesungen um die Fahrkarten. Ich greife in meine Jackentasche, suche zwischen den Seiten des Skizzenbuches – nichts. Ungeduldig wippt der Fuß des Schaffners.
Das Ticket sei sicher noch ein Abteil weiter vorne, da, wo ich vorher gesessen hätte, sage ich leise. Sämtliche Souveränität aus meiner Stimme verflogen.
Ich könne es gerne suchen gehen, aber als Pfand solle ich den Rucksack dalassen, sagt der Kontrolleur. Ein Spaßvogel. Er lacht. Dabei tanzt sein Kinn auf einem puddingweichen Kehlsack. Hastig schiebe ich mich vom Fensterplatz aus auf den Gang, betend, dass ich Recht behalten werde. Aus dem Augenwinkel sehe ich noch, wie sie kippt, die Flasche, versuche sie zu greifen, aber da ergießt sich der dickflüssige Saft schon gleichmäßig über den Tisch. David grinst.
Der Schaffner jetzt genervt, tritt zurück, um sich nicht zu beschmutzen. Diese Sauerei. Das machen Sie gleich aber alles wieder sauber. Die Leute gucken. Ich senke demütig den Kopf, wanke getroffen den Gang zum anderen Waggon hinunter um dort tatsächlich das Ticket vor meinem alten Sitz auf dem Boden zu finden. Glück für Sie, sagt der Schaffner, scannt das Ticket und widmet sich dem nächsten Fahrgast.
Aber noch ist es nicht vorbei. David hat schon begonnen, mit einer Packung Taschentücher einen Damm an der Tischkante zu errichten, um den Smoothie am Herabtropfen zu hindern. Fasziniert schaue ich ihm dabei zu. Der Schöne macht sich die Hände für mich schmutzig. Ein vollkommen überraschender Zug. Laufe den Gang hinunter zur Toilette, um Papierhandtücher zu holen, und beginne danach, die Flüssigkeit aufzusaugen. David schaut indes unbeteiligt aus dem Fenster, macht keine Anstalten mehr, mir zu helfen. Habe ich mich eigentlich für seine Hilfe bedankt? Weiß es nicht mehr. Trotzdem. Rühr dich nochmal, David, oder endet deine Hilfsbereitschaft, sobald es anstrengend wird?
Ich schaue wieder offensiv zu ihm hinüber. Nur wegen dieser kleinen Blamage mit dem Saft ziehe ich mich nicht zurück. Aber er blickt weiter starr auf die Landschaft. Erst als ich laut fluche, weil ich feststelle, dass ich auch mit dem Jackenärmel die Tischplatte reinige, schaut er wieder rüber. Er bringt demonstrativ seine Kopfhörer in Sicherheit und führt dann den Handrücken zum Mund, um sein Grinsen zu kaschieren. Hämisch sieht er mich direkt an.
Dafür werde ich mich rächen.
Während er tiefer in den Sitz rutscht, wird der Blick auf seinen Schoß frei.
«Soll ich da auch sauber machen? Oder stört dich das gar nicht?» Mit einem frischen Papiertuch in der Hand nähere ich mich seinem Genital. David blickt an sich hinunter und bemerkt entsetzt einen hellen Fleck auf der Wölbung zwischen seinen Beinen.
«Nein, geht schon!», schreit er auf und weicht erschrocken zurück wie eine Schnecke, die man an den Fühlern berührt hat. David betastet den Fleck, stellt fest, dass er nass ist.
«’tschuldigung», sage ich, um das Gespräch wieder auf ein zivilisiertes Niveau zu bringen.
«Irgendwie scheint dieser Körperteil von speziellem Interesse für dich zu sein», sagt er scharf. Er steht auf und läuft in Richtung WC. Als er wiederkommt, hat er sich den Pulli um die Taille gebunden, um den nassen Stoff im Schritt zu verdecken, den er offenbar umfangreich auf der Toilette mit Wasser bearbeitet hat. Vor seinem Platz bleibt er unschlüssig stehen, setzt sich dann wieder. Nachdenklich schaut er in meine Richtung. Es ist nicht zu übersehen, er hat einen Kratzer im Lack.
Ich schaue auf die Uhr. Bald sind wir in Köln. Beende die Reinigung, will meine Sachen zusammenpacken, da fällt mein Blick auf das aufgeschlagene Skizzenbuch. David I und David II lachen mich höhnisch vom Papier aus an. Er hat seine Zeichnungen gesehen, hatte genug Zeit, sie ausführlich zu betrachten, als ich die Tücher geholt habe! Das erklärt auch seinen Kommentar zu meiner Entschuldigung. Fange schlagartig wieder an zu schwitzen. Unter das aufkeimende Bedürfnis, die Flucht zu ergreifen, mischt sich ein seltsames Gefühl der Erregung. Die Zeichnung hat ihren Zweck erfüllt.
«Danke für die Muskeln, Pygmalion, aber ein Stück weiter unten hätte ich mir etwas mehr Realismus gewünscht», sagt er ernst.
Ein anhaltender Piepton in meinem Ohr überdeckt die Geräuschkulisse auf dem überfüllten Bahnsteig. Wie in einer Blase bewege ich mich durch die Menge. Was ist da gerade passiert? Er hatte vor mir den Zug verlassen. Während ich noch damit beschäftigt war, mein Gepäck aus dem Kofferdepot zu zerren, war er zügig durch die Tür verschwunden, um nicht von den neu Zusteigenden blockiert zu werden. Längst dürfte er, wohin auch immer, verschwunden sein. Trotzdem suchen meine Augen ihn zwanghaft im Gewimmel des Bahnhofs.
Bis zu Martha ist es glücklicherweise nicht mehr weit. Auf der Rolltreppe, die vom Breslauer Platz hinunter zur U-Bahn führt, glaube ich dann plötzlich, ihn in der Gruppe der Wartenden auf dem Bahnsteig zu sehen. Ich ducke mich weg, überlege sogar, die Rolltreppe wieder hinaufzulaufen, denn an das gerade im Zug Geschehene kann ich ohne Pause nicht einfach anknüpfen. Muss erst die Gedanken sortieren, die Fassung zurückgewinnen. Dann dreht sich der kurz geschorene Hinterkopf plötzlich um und Erleichterung, nein Enttäuschung – er ist es nicht.
In der U-Bahn gibt es keine freien Plätze. Also hänge ich mich in die Halteschlaufe über mir und pendle gedankenverloren in den Kurven von einer Seite zur anderen, bis ein helles Lachen meine Aufmerksamkeit erregt.
Читать дальше