Oder liegt es an der Präsentation? Bin ich dir zu provinziell, zu langweilig, zeige ich zu wenig? Wäre es dir lieber, David, dein Blick könnte auf zwei Brüsten ruhen, die ein Wonderbra raffiniert zueinander schiebt und anhebt, sodass sie rund und prall werden und sich eine verführerische Rinne zwischen ihnen bildet? Die Kleidung drum herum drapiert wie ein geöffneter Theatervorhang. Vielleicht hieltest du dich dann länger an mir auf. Aber ich habe nun mal keine Ahnung von diesen Enthüllungsspielen. Bisher hat mich mehr interessiert, was sich unter der Oberfläche verbirgt, und das ist auch an mir das Interessantere. Glaube ich. Hatte ich mir zumindest immer so gewünscht. Und jetzt?
Jetzt gäbe ich alles für ein tiefes Dekolletee. Würde zugunsten der Oberfläche auf ein wenig Tiefe verzichten, täte alles, um begehrenswert zu sein, ihn genauso zu fesseln, zu beunruhigen, wie er mich. Dann wäre es mein Bild, das er heute Abend mit in sein Bett nehmen würde, sein Geschlecht dabei in der Hand, um sich Befriedigung zu verschaffen. Unglaublich diese Gedanken, verachtenswert, erkenne mich selbst nicht mehr. Und doch, es gefällt mir. Diese Gedanken an das, was mit ihm sein könnte, sind erregender, besser als alles, was ich bisher tatsächlich hatte.
David ist mit seinen Augen jetzt an meiner Gürtelzone angekommen. Hier endet der Scan. Er widmet sich wieder seinem Smartphone. Vorbei! Noch kein Wort gesprochen und trotzdem ist mein Ego schon in Gefahr. Die Lust verebbt schlagartig, zurück bleibt das erniedrigende Gefühl, nicht gut genug zu sein.
Warum hast du nicht gelächelt, David? Weil du arrogant bist. Du bist reine Oberfläche. Das ist deine einzige Qualität ... und dein Los. Du kannst nichts dafür. Aber ich auch nicht. Und deshalb muss ich dich entsprechend behandeln. Zu meinem eigenen Schutz.
Nun da er wegsieht, kann ich wieder hinsehen. Dabei kommt mir etwas in den Sinn, das mich wieder auf Augenhöhe bringen wird.
Ich zeichne dich, banne deine Gestalt auf Papier und mache dich unschädlich! Du kannst nichts dagegen tun.
Vor ein paar Monaten, beim Aktzeichenunterricht, da kaute sich das Männer-Modell in der Pause die Fingernägel ab, nur weil ich es an seiner wichtigsten Körperstelle, miniaturisiert hatte – nicht aus zeichnerischer Unzulänglichkeit, nein, aus voller Absicht. Wankend kam dieser selbstgefällige Idiot immer wieder zu meiner Staffelei, begann Small Talk, um sich beliebt zu machen, bat mich mehrfach, ihm die Zeichnung zu schenken, sogar zu verkaufen, und je überzeugter ich ihm das verweigerte, denn die Zeichnung war wirklich gut, sollte sogar ausgestellt werden, desto nervöser wurde er.
Ahnungslos schaut sich David jetzt um, hat keine Ahnung von dem, was ich ihm antun werde.
Wenn ich dich zeichne, bist du mein Geschöpf, unterliegst meinem Willen. Ich kann dich mit einem einfachen Filzstift von deinem Sockel stoßen, dich mir unterwerfen, ohne dass du es merkst, denn der Magie des Schöpfungsaktes entzieht sich niemand. Objekte der Angst oder der Begierde, egal, was es an Bedrohlichem sein mag – darstellend bannt der Mensch seine Dämonen. Einst in primitiven Höhlenzeichnungen, später in aufwendigen Gemälden und heute als Kritzeleien auf Toilettenwänden.
Ich werde dich an deiner empfindlichsten Stelle treffen, an der empfindlichsten Stelle aller Männer, und mag dieses Detail in Relation zum Rest des Körpers auch klein erscheinen, es gibt einfach kein bedeutenderes für die männliche Eitelkeit!
Ich hole das Skizzenbuch aus meinem Rucksack und wähle zwei schwarze Fineliner in unterschiedlichen Stärken aus. Die Vorbereitungen sind sorgfältig zu treffen, wenn das Ergebnis gut werden soll.
Vorsichtig berührt er die Macke am Mund mit dem Mittelfinger und verzieht schmerzlich das Gesicht dabei. Jeder hat einen wunden Punkt. Und deiner ist mit Sicherheit die Eitelkeit. Mit ein paar kleinen Markierungen übertrage ich seine groben Proportionen auf die leere Seite.
Dann beginne ich an der Kinnpartie, nutze die Gelegenheit, dass er nun seitlich aus dem Fenster schaut. So hat man eine leichte Untersicht und damit die delikaten Stellen im Blick. Der Hals ist ausgesprochen sexy: stark, markant, fest. Jetzt dreht er sich noch weiter Richtung Fenster. In der Bewegung folgt die Haut geschmeidig der Muskulatur. Der Adamsapfel hebt sich leicht, als er schluckt. Sein Körper ist ein Gedicht. Ich bin begeistert, muss mich zur Nüchternheit zwingen.
Jeder Strich ist wie eine Anzüglichkeit, denn David ist auf der Zeichnung vollkommen nackt.
David, mit der Betonung auf dem i. Nicht Michelangelos, sondern Almas.
Mit jeder Minute wird er mehr zu meinem Geschöpf. Ich beschenke ihn reichlich mit Muskelfleisch, forme seine Oberarme zu Kunstwerken, moduliere seine Bauchpartie nach dem westlichen Ideal. Nur das Gesicht soll exakt so werden, wie es ist. Dann erkennt man dich, David. Meine Hand bewegt sich schwung- und machtvoll über das Papier. Euphorischer Wahnsinn führt den Stift. Gleichzeitig pocht es intensiv an der Jeansnaht zwischen den Beinen. Ich presse mich mehr dagegen. Macht und Erotik, beides so erschreckend nah beieinander. Höre auf, mich über mich selbst zu wundern, genieße den Rausch.
Dann ist es vollbracht. Ich bin zufrieden mit seiner Figur, freue mich über seinen geradezu verstörenden Penis.
David wird sein Bildnis niemals sehen und dennoch ist das Gleichgewicht wiederhergestellt.
An der Seite notiere ich seinen Steckbrief:
Name: David
Alter: 27
Ausbildung: abgebrochenes Architekturstudium
(1. Semester)
Beruf: Model (aber nie ganz nackt)
Hobbys: Pumpen, Mädels, Kiffen
Lebensziel: «später mal in die Politik»
Stärken: gutaussehend
Schwächen: «kein Kommentar»
Das ist böse, ein bisschen albern sogar, aber es verschafft mir Befriedigung.
Als ich fertig bin, betrachte ich das Original. David hat an der Fensterdichtung einen Marienkäfer entdeckt. Lächelnd hält er seinen Finger vor das Insekt, damit es darauf klettern kann. Der Marienkäfer läuft vom Finger hinauf bis zum Handrücken und gerät in den Haaren, die dort wachsen, ins Straucheln. David balanciert die Hand aus, damit der Käfer nicht hinunterfällt, schaut sich um, als würde er im Zug nach einer Pflanze suchen, und setzt ihn dann wieder vorsichtig auf der Fensterdichtung ab.
Vielleicht tue ich ihm Unrecht. Eine ganze Weile sitze ich nur da und beobachte ihn, hoffe auf weitere Hinweise zu seinem Charakter. Dann streiche ich sein Lebensziel mit der Politik durch und schreibe stattdessen: «irgendwas mit Tieren».
Als ich vom Skizzenbuch wieder aufblicke, hilft er gerade einer älteren Dame, deren Taschenhenkel im Vorbeigehen an seiner Armlehne hängen geblieben ist. Die Dame bedankt sich überschwänglich, kann nicht fassen, dass der junge Schönling ihr so freundlich und zuvorkommend begegnet. Sie errötet, fasst sich mit der freien Hand an die glühende Wange, stottert schwärmerisch überschwänglichen Dank vor sich hin. Ihre Worte verwirren sich, die Mundwinkel zucken schamhaft, als spürte sie plötzlich, dass es nur der Höflichkeit geschuldet ist, dass sich seine Aufmerksamkeit so lange um ihre gealterte Person dreht. Sie zupft die Knopfleiste ihrer Bluse gerade, als könne sie damit auch ein paar der übrigen Falten glätten. Dann drückt sie die befreite Tasche an sich. Kein Problem, sagt er und, ja, die Gänge in den Zügen seien wirklich viel zu eng. Freundlich nickt er ihr zu. Die Dame wird von nachrückenden Passagieren zum Weitergehen gedrängt, widerwillig löst sie sich von seinem Anblick, mild lächelt sie ihn ein letztes Mal an, bevor sie den Kopf in Gangrichtung zurückwendet. Etwas Trauriges umlagert dabei die eingefallenen Augen.
Ich streiche auch «irgendwas mit Tieren» wieder. Man sollte das einsehen, wenn man im Begriff ist, sich zu täuschen. Ein übler Kerl ist er nicht.
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