Vor einer Ampel sah ich, wie sich Regenwasser, Blätter und Abfall vor einem Gully stauten, sich eine große Pfütze bildete, die nicht in die Kanalisation abfließen konnte. Das marode Kanalnetz Hamburgs fiel mir ein, als ich anfuhr. Die Eingeweide der Stadt, die ihren Unrat ausschied. Unter dem Asphalt flossen durch undichte Rohrleitungen die Abwässer der Stadt, versickerten im Untergrund, belasteten Grundwasser und Boden. Zig Millionen mussten in das Abwassersystem gepumpt werden, ein großes Geschäft für die Firmen, die sich darauf spezialisiert hatten. Deswegen hatte ich vor knapp einem Jahr ein großes Aktienpaket von einer Firma gekauft, die zu den größten der Branche zählte. Eine Investition, die sich schon ausgezahlt hatte, weil der Börsenkurs von Cleanova sich nach einer Umsatzsteigerung von 25 Prozent fast verdoppelt hatte. Dieses glänzend aufgestellte Unternehmen würde auch weiterhin zu meinen klaren Favoriten zählen, nichts deutete auf einen Abschwung hin, im Gegenteil, es lud zu viel Kursfantasie ein. Um Risse und Lecks zu finden und zu reparieren, setzte es sogar einen mit einer Videokamera ausgestatteten Roboter ein, der dann verwertbare Dokumentationen über den stinkenden Untergrund der Städte lieferte. Der Roboter hatte auch Hamburg unter dem Asphalt genau inspiziert. Die Kanalnetze der meisten deutschen Städte waren veraltet, defekt; überall leckte es aus undichten Stellen, Modernisierungsmaßnahmen waren dringend notwendig. Für die Wasserwirtschaft ein bombiges, zukunftssicheres Geschäft. Ein gut funktionierendes Abwassersystem war ein Muss für die Städte, auf die hohe Ausgaben zukamen, damit die hygienische Grundversorgung ihrer Bürger gesichert werden konnte. Die menschliche Kloake wird immer Probleme bereiten, dachte ich, als ich über regennasse Straßen, unter denen die Abwasser Hamburgs auf die Klärwerke zuströmten, zurück nach Hause fuhr. Wo viele Menschen zusammenleben, da muss auch vieles geklärt werden.
Der menschliche Dreck. Unmassen davon wurden schlecht gefiltert in die Elbe geleitet und dann weiter in die Nordsee transportiert. Vermischte sich dort mit dem Dreck anderer Flüsse, trieb entlang der Küste gen Norden. Unaufhaltsam.
Das Telefon klingelte. Im Display sah ich die Nummer von Claudia. Ich überlegte kurz, nahm dann den Hörer nicht ab. Als der Anrufbeantworter sich einschaltete, legte sie auf. Auseinandersetzungen mit ihr wollte ich jetzt vermeiden. Von ihr würde ich mir auf keinen Fall die Europameisterschaften verderben lassen. Dagegen war ich vielleicht schon immun. Ich fühlte mich noch immer gut in Form, freute mich auf die Rennen, rechnete mir bessere Chancen aus als beim letzten Mal in Berck sur mer. Eine gebrochene Läuferplanke hatte mich nach einer Kollision mit dem viel zu riskant fahrenden Nigel Connally den schon sicher geglaubten 5. Platz gekostet.
Ich ging in mein Arbeitszimmer, setzte mich an den Schreibtisch, schaltete den Computer ein. Ich wollte noch wissen, was sich auf dem Finanzmarkt abgespielt hatte.
Nach einem schwachen Start hatten die Kurse an den europäischen Börsen doch noch zugelegt. Für freundliche Stimmung sorgten positive Überraschungen aus der beginnenden Berichtssaison. Investoren witterten sofort ihre Chance, deckten sich renditegläubig ein. Im Branchenvergleich zählten besonders Technologie- und Konsumgütertitel zu den Gewinnern. Der Dow Jones hatte nach ruhigem Verlauf kaum verändert geschlossen. Die aktuellen Konjunkturdaten ließen die Wachstumsaussichten für die amerikanische Wirtschaft als stabil erscheinen. Der Optimismus wurde jedoch gebremst von der Konfliktlage im Nahen Osten und dem wieder anziehenden Ölpreis.
Die Tagesperformance der beiden Fonds, die ich managte, bot ein zufriedenstellendes Bild. Zwar hatten die Kurse eines Hoch- und Tiefbau Unternehmens und einer Biotech-Firma nachgegeben, doch diese kleinen Verluste gehörten zu der einkalkulierten Schwankungsbreite. Der mit deutschen Aktien bestückte Fonds lag mit 0,7 Prozent im Plus, der andere, im gesamten Euroraum spekulierende sogar mit 1,2 Prozent. Für beide Fonds erwartete ich in den nächsten Monaten deutliche Kurssteigerungen. Mit seriösen Wirtschaftsprognosen hatte ich meine Strategie abgesichert. Den Index würden sie wohl auch in diesem Jahr deutlich schlagen. Das allein wäre schon ein Erfolg.
Ich schaltete den Computer aus. Ich wollte mich nicht länger mit den hektischen Zuckungen des dauernd überdrehten Kapitalmarktes beschäftigen. Dieser ganze spekulative Krampf, der mein Leben seit Jahren bestimmte. Zwar verdiente ich glänzend, konnte mir auch keinen für mich geeigneteren Beruf vorstellen, aber ich merkte, wie mein Unbehagen wuchs. Ich kam mir wie ein Schauspieler in einer Rolle vor, die ihm immer fremder wurde. Es war eine Tätigkeit, die mich lange Zeit gefesselt hatte, ihren Reiz jedoch mehr und mehr verlor. Ich versuchte, mich anfangs dagegen zu wehren, aber dann gab ich nach. Bei mir nistete sich das Gefühl ein, auf einem Kurs unterwegs zu sein, der mich von mir selbst entfernte. Auch jetzt wieder. Was für ein Tag! Mein Leben befremdete mich.
Das Telefon klingelte. Es war Claudia, die wieder auflegte, als der Anrufbeantworter sich einschaltete. Ich fühlte mich von ihr gestört. Ich nahm das Telefon, öffnete das Adressbuch und löschte ihre Nummern. Warum sollte ich sie noch länger speichern? Wir waren gekentert, es war vorbei.
Uns fehlt die Leidenschaft. Was für ein Satz! Vielleicht hatte sie ihn irgendwo gelesen und dann auf uns gemünzt. Als würde sie nach einer Mängelanzeige Bilanz ziehen. Egal. Für mich waren die Europameisterschaften wichtiger. Das Strandsegeln war eine große Leidenschaft von mir und ihr würde ich mich bestimmt weiter hingeben.
Ich war am Meer aufgewachsen. Ich hatte im Meer schwimmen gelernt. Ich war Strandsegler geworden.
Morgen, dachte ich, werde ich wieder in meinem Strandsegler sitzen. Ich sah zu dem großen Ölgemälde, das über dem Sofa an der Wand hing. Es stellte einen Strandsegler dar, der meernah über eine Sandbank raste. Das verwischt Impressionistische des Bildes glich einer fotografischen Momentaufnahme, bei der die Geschwindigkeit mit einer scheinbar bewegten Unschärfe betont wird. Es war mein Lieblingsbild, auch wenn es nicht zu den abstrakten Bildern in meinem Wohnzimmer passte, sich deutlich davon abgrenzte. Es erzeugte für mich eine ganz persönliche Wirkung. Jedes Mal, wenn ich es betrachtete, fand ich mich darin wieder.
Ich stand auf, öffnete die Tür, betrat die regennasse Dachterrasse, atmete tief die wie von einem Riesenfächer herangewehte frische Luft ein. Es hatte aufgehört zu regnen, von den gestutzten Sträuchern und Bäumen fielen noch Tropfen auf die Natursteinplatten, die im Licht der Außenlampen matt schimmerten. Ich genoss den Anblick meines Dachgartens, dieses von gärtnerischem Geschick begrünte und von mir leicht zu pflegende Stück Natur. Es ließ die Stadt zurückweichen, machte mein Penthouse exklusiver und privater.
Mein außergewöhnliches Zuhause in bevorzugter Lage hatte einen hohen Stellenwert für mich. Ich spiegelte mich darin, nährte so meinen Stolz, der mich in Hamburg auf eine einfältige Weise begleitete. Ich hatte es zu etwas gebracht. Mit diesem Bewusstsein kostümierte ich mich. Es half mir, mich selbst zu überreden, mein Leben hier schöner zu finden, als es war.
War ich in Hamburg, sehnte ich mich schon bald nach dem Meer, war ich jedoch am Meer, und dann meistens in St. Peter-Ording, fehlte mir nach ein paar Tagen Hamburg, das gewohnte Metropolenleben. Dann wunderte ich mich über mich selbst, wusste es aber nicht zu ändern.
Der Tag schien mir schon vorbei zu sein. Was sollte ich mit ihm noch anfangen? Was passiert war, hatte mich zuerst getroffen, dann aber schnell ernüchtert. Eine Liebelei von mir war verunglückt, nichts weiter. Ich fühlte mich mehr träge als müde. Ich griff zum Hochglanz-Magazin auf dem Glastisch vor mir, schlug das heutige Fernsehprogramm auf, suchte skeptisch darin, fand nichts, reine Zeitverschwendung, blätterte weiter. Ein Artikel über Gesichtsgymnastik hätte Claudia wohl interessiert, die sich mit beträchtlichem Aufwand von Kopf bis Fuß trimmte. Ich las darin, fragte mich, ob die Übungen auch für mich nützlich sein könnten.
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