Alles in allem, so beschloss Sarah, konnte sie sich sehen lassen. Zudem war jemand wie Thomas of Lancaster ganz sicher nicht mit einem üppigen Dekolleté und einer zentimeterdicken Schicht Puder zu beeindrucken.
Als sie um 19 Uhr auf die Straße trat, wartete die Kutsche bereits auf sie. Die Fahrt dauerte lediglich 10 Minuten, dann hielt das luxuriöse Gefährt vor Thomas of Lancasters repräsentativen Stadthaus. Das gesamte Grundstück war eingezäunt, Sarah trat durch das schwere Eisentor und bewunderte den penibel gepflegten Vorgarten, der alleine schon größer war als die meisten Grundstücke in ihrer Wohngegend.
Suchen schaute Sarah sich um, aber keine andere Kutsche war zu sehen. Entweder war sie zu früh oder die anderen geladenen Gäste hatten sich bereits eingefunden. Der Kutscher begleitete sie bis zur Eingangstür und stellte ihr dann den Butler vor, der sie höflich begrüßte und sie in einen prachtvoll ausgestatteten Salon führte.
Dieser war jedoch leer, und als sie den Butler über den Verbleib der anderen Gäste fragen wollte, musste sie feststellen, dass dieser sich bereits diskret zurückgezogen hatte.
Sarah musste schlucken. Sie gehörte ganz bestimmt nicht zu jenen Frauen, die zu Hysterie neigten, aber so ganz allein in diesem riesigen, fremden Haus, welches von zwei ihr so gut wie unbekannten Männern bewohnt wurde, kam sie sich doch ein wenig verloren vor. Warum hatte sie nicht daran gedacht, eine ihrer Schwestern als "Anstandsdame" mitzunehmen?
Doch nun war es zu spät, sie würde einfach darauf hoffen müssen, dass Thomas Lancaster oder sein Liebhaber keine unehrenhaften Absichten hegten. Um sich von ihren unangenehmen Gedanken abzulenken, schaute Sarah sich in dem großen, gemütlich ausgestatteten Raum um. Der Salon schien gleichzeitig als eine Art Bibliothek zu dienen, denn in den dunklen Holzregalen waren sicher mehrere Hundert Bücher untergebracht.
Auf einem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch. Sarah griff danach und warf einen Blick auf den Titel.
"Das Bildnis des Dorian Gray" von Oscar Wilde. Sie hatte von diesem skandalumwitterten Buch gehört. Es war bereits vor einigen Jahren erschienen und deshalb so umstritten, weil dem Autor hinter vorgehaltener Hand Unzucht und Sodomie vorgeworfen wurde und einige Kritiker und viktorianische Sittenwächter bis heute versuchten, diese Vermutung anhand von Motiven aus dem Roman zu belegen. Es war gut möglich, dass Lancaster sich in den gleichen Kreisen bewegte wie dieser Oscar Wilde, vielleicht kannten sie sich sogar persönlich.
Sarah kam nicht umhin sich einzugestehen, dass sie durchaus nichts dagegen hatte, einen skandalösen Autor kennenzulernen. Kontakte dieser Art konnten sich für jeden Journalisten als nützlich erweisen.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und Thomas of Lancaster betrat zusammen mit Simon Westville den Raum. Beide Männer waren elegant und modern, für den Anlass jedoch eine Spur zu bunt und auffällig gekleidet. Sarah musste unwillkürlich an den etwas despektierlichen Ausdruck für Männer mit einer Attitüde dieser Art denken, den sie vor Kurzem in einer konservativen Zeitung gelesen hatte: Dandy.
Simon kam strahlend auf sie zugeeilt und reichte ihr die Hand.
„Miss Moore, wie schön, dass Sie es einrichten konnten uns zu besuchen. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Bis zum Dinner haben wir noch Zeit."
Nachdem auch Thomas sie freundlich, wenn auch etwas zurückhaltender begrüßt hatte, wurde Tee gereicht und alle drei setzten sich auf die gemütlichen Sessel in der Nähe des Kamins. Etwas verlegen schaute Sarah von einem zum anderen. Warum sagte niemand etwas? Die Stille wurde langsam unangenehm. Zudem hätte sie gerne gewusst, was sie nun eigentlich hier sollte. Alles deutete darauf hin, dass der Abend deutlich anders verlaufen würde, als sie sich vorgestellt hatte. Anstatt Konversation zu betreiben und sich über den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen, hatte sie das Gefühl, vor einem Inquisitionstribunal zu sitzen. Oder bildete sie sich Thomas bohrende Blicke etwa nur ein?
Schließlich war sie es satt und beschloss, die Flucht nach vorne anzutreten. Sie räusperte sich.
„Ich freue mich wirklich sehr über Ihre Einladung, Sir Thomas, aber so recht einen Reim darauf machen kann ich mir nicht. Wie komme ich zu dieser Ehre?"
Thomas wirkte ertappt und antwortete in einem verbindlichen Ton:
„Bitte verzeihen Sie, Miss Moore, das muss Ihnen verständlicherweise alles sehr verdächtig vorkommen."
Er seufzte.
„Leider ist das Angebot, welches wir Ihnen zu machen haben äußerst ungewöhnlich und sehr heikel. Es könnte sein, dass sie gleich wütend und zutiefst schockiert mein Haus verlassen und ich könnte es Ihnen nicht einmal verübeln."
Sarah schaute irritiert von einem der Männer zum anderen, versuchte jedoch ruhig zu bleiben und sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Ihre Stimme klang fest, als sie erwiderte:
„Sie müssen ein sehr wichtiges Anliegen haben, Sir Thomas, wenn Sie mich deswegen herbestellen. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die zu hysterischen Ausbrüchen neigen oder sich in eine Ohmnacht flüchten, wenn sie sich überfordert fühlen. Sie können also ganz beruhigt sprechen und haben meine volle Aufmerksamkeit. Anschließend werde ich dann entscheiden, ob ich zum Dinner bleibe oder nicht."
Sarah lächelte, um ihren letzten Worten die Schärfe zu nehmen. Innerlich glaubte sie fast zu platzen vor Spannung und Neugier.
„Besonders zart besaitet schätze ich Sie auch nicht ein, Miss Moore, deswegen habe ich mich ja dazu entschlossen, gerade Ihnen mein Angebot zu unterbreiten."
Thomas erhob sich und begann, vor dem Sessel auf und ab zu laufen. Die Arme verschränkte er auf dem Rücken und hielt sich so gerade, als würde er an einer Militärparade teilnehmen.
„Nun gut. Wie Sie vielleicht wissen, Miss Moore, pflege ich einen Lebensstil, der nicht gerade bescheiden zu nennen ist. Ich lege Wert auf schöne Dinge, mit denen ich mich ausstatten und umgeben kann. Das allein wäre kein Grund für meinen Vater gewesen, mir damit zu drohen, seine finanziellen Zuwendungen einzustellen. Das Problem ist etwas anders gelagert. Meine größte Schwäche sind, sie ahnen es vermutlich bereits, meine eigenen Geschlechtsgenossen."
Thomas warf Sarah einen fragenden Blick zu, doch sie schaffte es, ihre Mine ausdruckslos erscheinen zu lassen. Also holte er tief Luft und fuhr fort:
„Ich habe mit Frauen in sexueller Hinsicht nie etwas anfangen können. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich schätze intelligente Frauen vermutlich mehr als andere Männer und bin ein erklärter Bewunderer weiblicher Schönheit. Dennoch reizen Frauen mich nicht auf die traditionelle Art und Weise. Glauben Sie mir, ich habe durchaus versucht, mich Frauen zuzuwenden und mein Laster, denn als solches wird meine Neigung im besten Fall angesehen, zu bekämpfen. Meine guten Vorsätze blieben jedoch zwecklos."
Thomas seufzte.
„Ich habe mich längst mit meinen Vorlieben arrangiert und kann gut damit leben. In London und wahrscheinlich überall auf der Welt gibt es Tausende Männer, die sich ebenfalls nicht zu Frauen hingezogen fühlen. Das Problem ist jedoch, dass der äußere Schein gewahrt bleiben muss. Ein Mann mit einer gesellschaftlichen Stellung, wie ich sie inne habe, muss bestimmten Ansprüchen genügen, zumindest nach außen hin. Das bedeutet, er muss heiraten und Kinder zeugen."
Thomas nahm nun wieder in seinem Sessel Platz und schaute Sarah direkt in die Augen.
„Mein Vater hat mir nun die Pistole auf die Brust gesetzt. Ich muss innerhalb von zwei Jahren heiraten, ein Kind zeugen und ein solides, standesgemäßes Leben führen, sonst entzieht er mir alle finanziellen Mittel. Er ahnt vermutlich, dass ich trotzdem der bleibe, der ich bin, also ein verschwenderischer Dandy, der der Sodomie frönt, aber zumindest bliebe der Schein gewahrt."
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