Tom und Simon besuchten gerne Lady Sullivans Abendveranstaltungen. Bei gutem Essen wurde dort stets über Gott und die Welt philosophiert und Susanna verstand es, die Gästeliste interessant und abwechslungsreich zu gestalten. Er bewunderte diese unabhängige, tolerante Frau, die sich ihren Gästen gegenüber großzügig zeigte und diese charmant und geistreich zu unterhalten wusste. Heute jedoch war Tom nicht so gut gelaunt wie sonst. Seit er wieder in London war, zerbrach er sich den Kopf darüber, wo er eine passende Frau zum Heiraten ausfindig machen sollte. Nicht, dass es ihm an eindeutigen Angeboten von hübschen, teilweise sogar wohlhabenden Frauen mangelte. Wenn er es darauf anlegte, gelang es ihm problemlos, den Damen den perfekten Gentleman vorzuspielen. Doch jetzt ging es nicht darum, ein wenig zu flirten und sich einen Abend lang zu amüsieren. Wenn er schon heiraten musste, dann nur eine Frau, die nicht nur schöne Kleider und den neuesten Klatsch und Tratsch im Kopf hatte. Er wollte sich mit ihr unterhalten können. Zudem musste sie verständnisvoll und verschwiegen sein. Das Wichtigste wäre jedoch, dass sie seine Beziehung mit Simon akzeptierte und sich im Idealfall darauf einlassen würde, regelmäßig mit zwei Männern das Bett zu teilen, bis es ihm gelang, ein Kind zu zeugen. Wenn Tom so darüber nachdachte, sank seine Laune noch weiter. Wo sollte er in London eine Frau auftreiben, die all diese Kriterien erfüllte? Zudem konnte er nicht riskieren, die falschen Personen mit seinem Plan zu konfrontieren. Wenn heikle Informationen über sein Privatleben an die Öffentlichkeit kämen, würde er seine gesellschaftliche Stellung aufs Spiel setzen und riskierte, wenn er seinem Vater Glauben schenken wollte, eine Anklage wegen Sodomie. Und Simon? Wie würde er mit dieser delikaten Situation umgehen? Bisher hatte er sich eher bedeckt gehalten und lediglich erklärt, er sei bereit, sich mit einer Ehefrau zu arrangieren. Die Frage, wie dieses Arrangement in der Realität aussehen sollte, konnte auch er nicht beantworten. Tom seufzte und warf einen verstohlenen Blick auf Simon, der nun neben ihm in der Mietskutsche saß, die sie zu Susanna bringen sollte. Der junge Mann starrte schweigend aus dem Fenster. Er sah nachdenklich aus und wirkte in diesem Moment sehr jung und verletzlich.
Tom musste sich eingestehen, dass er für Simon stärkere Gefühle entwickelt hatte, als je für einen seiner zahlreichen Favoriten zuvor. Seine Anwesenheit wirkte beruhigend auf ihn und er schätzte Simons zurückhaltende Art. Im Bett hingegen war er ein leidenschaftlicher und vor allem erfahrener Liebhaber. Viele seiner ehemaligen Affären hatten sich ihre Neigung nicht eingestehen wollen. Ihr Liebespiel glich dem liebestoller Tiere. Ihre jahrelang aufgestaute Lust entlud sich in sekundenschnelle, ein leidenschaftlicher Kuss, ein zartes Saugen an ihrem hartem Glied und eine kurze, fast brutale Vereinigung reichten aus, um ihren Samen sprudeln zu lassen. Dann, nachdem die Ekstase abgeklungen war, warfen sie Tom vor, sie verführt und verdorben zu haben und kehrten reumütig zurück zu ihren Ehefrauen und Kindern. Tom blieb unbefriedigt zurück. Für ihn war die körperliche Liebe nur erfüllend, wenn sie spielerisch und mit leidenschaftlicher Raffinesse zelebriert wurde. Bevor er Simon kannte, hatte Tom daher einige Male eines dieser verboten-verruchten Etablissements aufgesucht, in denen junge, erfahrene Herren ihre Liebesdienste an wohlhabende Gentlemen verkauften. Obwohl Tom dort Befriedigung fand, so nutzte er diese spezielle Dienstleistung doch eher widerwillig. Es widerstrebte ihm, Männer kaufen zu müssen, um mit ihnen zu schlafen, obwohl er ihre Motive nachvollziehen konnte.
„Wir sind da, Tom. Träumst du?"
Simons Worte holten ihn unwillkürlich in das Hier und Jetzt zurück. Rasch erhob er sich und setzte seine übliche spöttisch-charmante Mine auf. Es sollte schließlich niemand ahnen, dass sein unbeschwertes Leben vielleicht ein Ende haben würde, wenn ihm nicht bald eine kluge Strategie einfiel.
Mit raschen Schritten eilte er Simon voraus. Nachdem sie ihre Mäntel abgelegt hatten, traten sie in den großzügigen, hell erleuchteten Salon, in dem bereits etwa 30 Leute in kleinen Grüppchen zusammenstanden und sich angeregt unterhielten. In diesem Augenblick kam Lady Susanna Sullivan auf sie zugeeilt. Sie trug ein auffälliges grünes Kleid, welches ihre Augen betonte und sie zum Strahlen brachte. Susanna war eine imposante Erscheinung, was nicht zuletzt daran lag, dass sie für eine Frau sehr groß gewachsen war. Sie überragte die meisten Männer im Raum um mehrere Zentimeter. Tom vermutete, dass ihr ehemaliger Gatte nicht zuletzt auch aufgrund seiner Minderwertigkeitskomplexe ständig Affären mit anderen Frauen begonnen hatte. Er gehörte zu der Sorte Männer, die ständig Bestätigung brauchte und es nicht ertragen konnte, wenn Frauen eine eigene Meinung vertraten. Nun, Tom musste zugeben, dass diese Haltung nach wie vor die Vorherrschende war. Und das, obwohl England von einer ziemlich energischen Frau regiert wurde.
Susanna hatte sich inzwischen bei ihm und Simon eingehakt und führte sie fröhlich plappernd durch den Salon.
„Ich freue mich so, dass ihr gekommen seid. Heute hat sich eine besonders interessante Mischung an Leuten hier eingefunden, wie ich finde. Ich möchte auch gerne Sarah Moore vorstellen. Sie ist Journalistin und hat mir einen Bericht über die Londoner Frauenbewegung zugesagt."
Tom reichte der jungen Frau die Hand. Sie trug ein schlichtes, hochgeschlossenes Kleid und wirkte etwas bieder, obwohl ihre Erscheinung durchaus hübsch zu nennen war.
„Schön, Sie kennenzulernen, Mrs. Moore, Susanna hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Mein Name ist Thomas of Lancaster und der attraktive Herr in meiner Begleitung heißt Simon Westville."
Gespannt wartete Tom auf Sarahs Reaktion. Er war sicher, dass Susanna ihr erklärt hatte, wie er und Simon zueinander standen und die Art und Weise, wie er Simon vorstellte, ließen selbst für Außenstehende keinen Zweifel mehr an ihrer Beziehung zu. Die Frage war nun, ob Sarah wirklich so tolerant war, wie Susanna ihm versichert hatte. Doch Sarah zeigte keinerlei Anzeichen von Schockiertheit. Sie blickte Tom direkt an, als sie freundlich, aber in energischen Ton antworte:
„Ich bin nicht verheiratet, Sir. Nennen Sie mich einfach Sarah."
Es folgte eine interessante Unterhaltung und Tom stellte erstaunt fest, dass Susannas mit ihrem Lob für diese Frau nicht übertrieb. Sarah war eine angenehme Gesprächspartnerin, die sich gewählt, aber treffend ausdrücken konnte. Zudem beherrschte sie die Kunst des Zuhörens und war in der Lage, sich auch einmal zurückzunehmen. Tom konnte Frauen, die ohne Punkt und Komma plapperten, auf den Tod nicht ausstehen.
Tom erfuhr, dass Sarah eine höhere Schule besucht hatte und davon träumte, sich als Journalistin bei einer etablierten Zeitung einen Namen zu machen. Als unverheiratete Frau wohnte sie noch in ihrem Elternhaus. Obwohl sie es nicht explizit erwähnte, konnte Tom ihren Worten entnehmen, dass die Familie Geldsorgen hatte.
Während des Dinners war Tom ungewohnt schweigsam. Simon stieß in an und flüsterte:
„Was ist los mit dir? Fühlst du dich nicht gut?"
Anstatt zu antworten, flüsterte Tom zurück:
„Wie gefällt sie dir?"
„Wer?"
„Sarah Moore natürlich."
Jetzt verstand Simon.
„Du denkst, sie könnte die richtige Kandidatin für eine Vorzeige-Ehefrau sein?"
Tom nickte.
„Sie ist clever, gebildet und braucht Geld. Mit Kleidern, die ein bisschen was her machen, und ein wenig Farbe im Gesicht wird sie aussehen wie eine Lady."
Tom lächelte. Vielleicht hatten sich seine Probleme gerade in Luft aufgelöst. Er würde noch einige Erkundigungen über Sarah einholen und ihr dann ein Angebot unterbreiten, welches sie nicht ausschlagen konnte.
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